Cover: Treibholz
Hans Norbert Janowski
Treibholz
- Aphorismen, SprĂŒche, Sentenzen IV
ISBN: 978-3-948-22925-2
140 Seiten | € 18.00
Buch [Taschenbuch]
Erscheinungsdatum:
06.04.2021
Sonstiges
Hans Norbert Janowski

Treibholz

Aphorismen, SprĂŒche, Sentenzen IV


Vorwort
Der Mensch ist aus krummem Holz gemacht, meinte Immanuel
Kant, und setzte dem den aufrechten Gang entgegen. Kant
kannte Krummholz gut von dem Treibholz her, das nach der
Sturmflut an die StrÀnde der Ostsee geschwemmt wird. Aus
krummem Holz, so sah es auch der Schöpfungsmythos der Germanen,
sei der Mensch geschnitzt: Ask, der Mann, aus Eschenholz,
Embla, die Frau, aus der Ulme – besonders aus Schwemmholz,
das man am Ufer fand. Ströme, Gezeiten schwemmen es
mit dem Schmelzwasser oder der Flut an. Treibholz ist nach langer
Fahrt besonders hart und hat, wenn es trocknet, eine knorrige,
eben krumme Gestalt.
In der Hand fĂŒhlt es sich ganz anders an als der vom Wasser geschliffene
Kiesel; nicht glatt und gerundet, sondern uneben und
verquer. Holz zeigt Strukturen eines Eigenwuchses, die man auch
bei der Bearbeitung und GlÀttung noch als Maserung oder Astgabelung
erkennt.
Wenn man Aphorismen liest, kommen gelegentlich solche Bilder
und Erinnerungen in den Blick: eine literarische Form, die ihren
Eigensinn schon in der KĂŒrze und in der fragmentarischen Unvollkommenheit
erkennen lÀsst. Es geht dabei um eine Unvollkommenheit,
die sich gleichwohl den Anschein der Vollkommenheit
zu geben weiß.
Treibholz wird wegen seiner HĂ€rte und Struktur gern zum Schnitzen
von Skulpturen und Figuren verwendet. Dabei ist es freilich
angebracht, auf den Eigenwuchs, die unregelmĂ€ĂŸigen Linien und
Ringe des Holzes zu achten, um dem StĂŒck nicht seine Seele aus
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dem Leib zu schneiden. Das eigenwillige Wesen fordert bei der
hölzernen wie bei der literarischen Materie seinen Tribut. Nicht
jeder Schnitt und Schliff passt und sitzt – beim Überschleifen des
Astes ebenso wenig wie bei dem Versuch, dem Eigensinn des
Aphorismus Eindeutigkeit abzupressen; er gewinnt Leben und
Fahrt erst im Spiel der Farben und Bedeutungen, als sprachlicher
Wechselbalg.
Treibholz schwimmt, es treibt auf dem Wasser, bleibt an der
OberflÀche, wird angetrieben von der Strömung, legt sich aber
auch quer, je nachdem, wie es gewachsen und versehrt ist. Die
Richtung seiner Bewegung, seines Bruchs, wird von KrÀften bestimmt,
die in ihm und auf es einwirken. Als Splitter kann es aggressiv
sein und verletzen, als BruchstĂŒck lĂ€sst es sich treiben, es
spreizt sich, mit seiner abgeschliffenen HĂ€rte schießt es auch dahin
wie ein Torpedo.
Aber ich will die Analogien und Divergenzen nicht strapazieren.
Aphorismen spielen an den RĂ€ndern der Bedeutung mit dem
Wortsinn, dem Widerspruch, dem paradoxalen Schein; sie sperren
sich bei allem Schliff gegen die Eindeutigkeit, die festlegt und
wie der Buchstabe „tötet“. Sinn und Aussage der Worte im Satz
hÀngen von dem gewöhnlichen Gebrauch, von der Umgebung,
in der sie etwas aussagen, vom Blickwinkel, von Zeit und Ort und
nicht zuletzt von ihrer Kernbedeutung ab. GegenĂŒber dem BemĂŒhen
um Eindeutigkeit reizt die Vieldeutigkeit und die poröse
Grenze zu mehr Aufmerksamkeit, der schillernde Gebrauch oder
der sperrige Eigensinn versprechen mehr Lebendigkeit und
schĂ€rfen den Blick auch fĂŒr das Abstruse im Normalen. Gelegentlich
fesselt der plurale Sinn gerade dadurch, dass sich der Satz in
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den „vierfachen Schriftsinn“ des sensus literalis, allegoricus, moralis
und anagogicus auffÀchert.
Die Offenheit und KĂŒrze dieser kleinen Form ergĂ€nzen deren
SchwÀchen zu einem stÀrkeren Effekt, begrenzen aber auch die
Reichweite ihrer Aussagekraft; so strahlt sie die selektive Kraft
eines Schlaglichtes aus, ihr fehlt aber das Charisma der sorgfÀltigen
Differenzierung.
Das setzt die Deutungsphantasie frei, verschafft ihr Atemluft und
fÀngt zugleich den Deutungsdrang auf in der Schwebe zwischen
Ironie, Widerspruch, einem skeptischen Freimut und einem
Scharfsinn, der sich ambiguitÀtsverliebt dem Doppelsinn banaler
SelbstverstĂ€ndlichkeiten hingibt: „Der Holzweg fĂŒhrt dich mitten
hinein.“ – Besonders der Gegensinn ist eine sprudelnde Quelle
des Aphorismus: „Wie sollte man jemandem vertrauen, der stĂ€ndig
die Wahrheit sagt?“ Oder auch: „Achten Sie auf die, welche
hinter Ihnen stehen!“
Die Hamburger Ärztin und Holzbildhauerin Maren Neumann arbeitet
mit Holz. Sie hat eine besondere Zuneigung zu Treib- und
Wurzelholz, zu dessen eigenwilligem Wuchs, dessen HĂ€rte und
von Wasser und Erde ‚bearbeiteter‘ Form. Ihm gibt sie mit Beitel
und KlĂŒpfel sowie mit empathischer Phantasie Gestalt. Zudem
zieht sie die dunkle Seele von Eibe und Ebenholz an. Maren
Neumann gibt den Bildnissen Namen und Titel; sie schlÀgt damit
eine BrĂŒcke zum Schriftsinn und zum literarischen Ausdruck, fĂŒr
dessen Gestaltung durch SchÀrfung und Verknappung der Aphorismus
den Mund spitzt und ihn sprachlich umspielt.
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Eigensinn, artistische Kraft und Spieltrieb ringen in beiden FĂ€llen
miteinander. So wird aus der Wurzel des Weinstocks eine zum
rettenden Lorbeer hin tanzende Daphne, ein StĂŒck Treibholz zur
Todesallegorie: der ‚Gast‘. Die Kugel am Ende und Beginn der
steilen Bahn: Man kann darin den Kampf des Sisyphos gegen die
Erdenschwere sehen. Oder: ‚Noch‘ – zwischen ‚noch Natur und
noch nicht Gestalt‘. So klar diese Metamorphosen erscheinen, so
offen und einladend bleiben sie fĂŒr das Spiel und die Arbeit der
Vorstellungskraft der Betrachtenden und Lesenden.
Das krumme Holz – es hat seine VorzĂŒge: Es schwimmt oben,
leicht und hart, es zeigt den Eigenwuchs sowie die Ambivalenzen
der Natur und widersetzt sich willkĂŒrlicher, nicht anpassungsbereiter
Bearbeitung. Kurz: Es kann manches zur AufklÀrung dessen
beitragen, was der aufrechte Gang zu verbergen weiß.
Hans Norbert Janowski

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Postleitzahl
Veröffentlichung:06.04.2021
Höhe/Breite/GewichtH 21 cm / B 14,8 cm / 300 g
Seiten140
Art des MediumsBuch [Taschenbuch]
Preis DEEUR 18.00
ISBN-13978-3-948-22925-2
ISBN-103948229252
EAN/ISBN

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