Das eiserne Herz des Charlie Berg
Fazit: „Das eiserne Herz des Charlie Berg“ ist erneut eines dieser Bücher, bei denen ich, am Ende angekommen, feststelle, dass ich sie schon längst hätte lesen sollen. Einmal natürlich aus lokalpatriotischen Gründen, denn Sebastian Stuertz kommt, wie wir in der Autorenbeschreibung lesen können, vom Steinhuder Meer, und dieser großspurig „Meer“ genannte etwa 30 km² große See liegt unweit meines heimischen Domizils nur eine gute halbe Stunde Autofahrt entfernt und gehört wenigstens anteilig noch zum heimischen Landkreis, war bis 1973 im Besitz der hiesigen Fürstenhauses, und nach der unseligen Gebietsreform von 1974 … – ich schweife ab.
Der erste Grund also liegt in Lokalpatriotismus begründet, der ausgeprägt ist, wenn man, wie ich, auf niedersächsischen Schützen- und sonstigen Zeltfesten sozialisiert wurde.
Der zweite Grund für die Feststellung des „Hätte ich schon längst lesen sollen!“ liegt darin, dass das Buch schon ziemlich zügig nach Veröffentlichung im Jahr 2020 bei mir eingezogen ist, dann aber irgendwie immer nur so rumlag, was aber eben ein Fehler war, wie ich nun feststellen konnte, denn tatsächlich habe ich schon seit geraumer Zeit kein so seltsames, schräges, aber auch charmantes und warmherziges Buch wie „Das eiserne Herz des Charlie Berg“ gelesen.
In selbigem treffen wir in den früheren 90ern auf den namensgebenden Charlie Berg. Und der hat es wahrlich nicht einfach im Leben. Sein Vater Dito ist ein semi-bekannter, dauerbekiffter, permanent durch die Welt tingelnder Jazzmusiker, die abseits davon aber ziemlich lebensunfähig erscheint, der jedoch wenigstens dafür verantwortlich war, dass ich zahllose, mir bis dato gänzlich unbekannte, nahezu poetische Formulierungen fürs Kiffen kennengelernt habe.
Charlies Mutter Rita wiederum ist Künstlerin, Theaterregisseurin und zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, praktisch nie zu Hause, und wenn, dann nie für ihre Kinder da zu sein. Irgendwann verlässt sie dann vollständig.
Und Charlies jüngere Schwester Fritzi befindet sich irgendwo im Autismus-Spektrum, liest Bücher schneller als weiland „Nummer 5“ – die Älteren werden sich erinnern – und beschränkt sich in ihrer verbalen Kommunikation auf Buchzitate verschiedenster Art, die mal mehr, mal weniger in die Situation passen.
Und inmitten all dessen steht der junge Charlie, der sich zum einen dadurch auszeichnet, über einen an Jean-Baptiste Grenouille erinnernden Geruchssinn sowie ein ziemlich schwaches Herz zu verfügen. Charlie versucht händeringend, im Stile eines Jongleurs, dem ein sadistischer Zirkusdirektor Ball um Ball zuwirft, um zu sehen, wann er scheitert, das Familienleben weitgehend allein zu managen, also dafür zu sorgen, dass seine Schwester rechtzeitig in die Stadtbibliothek kommt, dass Rechnungen bezahlt und alkoholinduzierte Nachrichten seiner Mutter vom Anrufbeantworter gelöscht werden, bevor sie jemand anderer hören kann.
Aber mit diesem Chaos soll nun bald Schluss sein, denn Charlie steht kurz vor dem Zivildienst, den er in völliger Abgeschiedenheit an der Küste mit dem Zählen von Vögeln sowie dem Schreiben seines Debütromans zu verbringen gedenkt.
Dann kommt aber irgendwie alles anders. Seine in Mexiko weilende Jugendfreundin und heimliche Liebe Mayra teilt ihm auf einem der zwischen Ihnen per Post ausgetauschten Videobänder mit, dass sie bald heiraten will. Und Charlie bricht mit seinem Opa, einem bekennenden Altnazi, der Charlie seine Wehrmachtswumme vermachen möchte, zu einem Jagdausflug auf, von dem nicht nur der anvisierte Hirsch, sondern auch der Opa nicht lebend nach Hause kommt. Von da an versinkt Charlies Leben langsam immer weiter im Chaos.
Stuertz erzählt seine Geschichte primär in zwei Zeitebenen, einmal der des erwachsenen Charlie kurz vor seinem Zivildienst, und einmal der des Jugendlichen. Zu Anfang hatte ich damit so meine Schwierigkeiten, denn man bemerkt, dass der Autor sich bemüht, in den Rückblenden so ziemlich jeden Hintergrundaspekt von Charlie zu beleuchten, wie er also beispielsweise zu seinem Geruchssinn kam, wie sein Herzfehler festgestellt wurde usw. Leerstellen sind das Ding des Autors also nicht, während ich ja finde, dass die Stärke eines Buches nicht nur in dem liegen kann, was erzählt wird, sondern auch und gerade in dem, was es weglässt.
Tatsächlich merkt man nach einer gewissen Weile dann aber, dass das Buch durch diese erschöpfende – im Sinne von detailliert, nicht im Sinne von ermüdend – Erzählweise zu einer ziemlich Dichte führt. Und dazu, dass man das Buch immer mal wieder gut für eine Weile weglegen und dann trotzdem ohne Probleme wieder reinfinden kann.
Darüber hinaus trägt zu dieser Dichte der bemerkenswerte Ideenreichtum des Autors bei. Denn die oberen Absätze bilden tatsächlich nicht mehr als nur einen groben Abriss über die Handlung. Es geht noch um so viel mehr. Um Literaturwettbewerbe. Um Jugendliebe. Um Hirschgulasch. Um die Zweckentfremdung von Fleischprodukten zur Befriedigung der pubertären, männlichen Libido. Fragt nicht.
Und aus all diesen Dingen macht Sebastian Stuertz dann etwas, das irgendwo zischen Coming-of-Age-Roman, Krimi, Liebesgeschichte und Komödie liegt, und das – ich wiederhole mich da gerne – so warmherzig erzählt ist, dass man nach den gut 700 Seiten eigentlich nochmal von vorne anfangen möchte.
Nun beklagen einige Rezensionen die zuweilen etwas derbe Sprache und die Tatsache, dass zu Beginn des Buches ein Hirsch erschossen wird, obwohl Gewalt an Tieren ja so gar nicht geht, und so – wer auf die Kritik an diesen, ähm, skandalösen Grenzüberschreitungen ähnlich wie ich mit einem amüsiert-resignierten Seufzen reagiert und stattdessen einfach daran interessiert ist, ein richtig gutes Buch zu lesen, dem sei „Das eiserne Herz des Charlie Berg“ wärmstens empfohlen.
Fraggle
Blogger bei LeseHitshttps://reisswolfblog.wordpress.com/