Die Welt von morgen
Fazit: Ich bin vergleichsweise spät auf Robert Menasse gestoßen, nämlich erst mit seinem 2017 erschienenen Roman „Die Hauptstadt“ sowie der Quasi-Fortsetzung „Die Erweiterung“ aus dem Jahr 2022, die ich allerdings beide mit ziemlicher Begeisterung gelesen habe. Nichts lag also näher, als sich auch mit „Die Welt von morgen“ zu beschäftigen – und sich Zweigs „Die Welt von gestern“ mal für später zu merken.
Menasses neuestes Buch ist allerdings kein Roman, sondern ein Essay, man findet sich also im weitesten Sinne im Sachbuchbereich wieder. Das tut dem Lesevergnügen als solchem aber keinen Abbruch.
Der Autor selbst stellt im Laufe des Buches irgendwann fest, dass er zwischenzeitlich etwas mäandernd erzählt, und da möchte ich ihm auch gar nicht widersprechen. Bei genauerer Betrachtung findet sich jedoch durchaus ein roter Faden, der in einem historischen Rückblick auf die Gründung der EU und die Intention dieser Gründung seinen Anfang nimmt, dann irritierend lange im Habsburger Reich, will sagen, in Österreich-Ungarn verweilt, und dann mal hier, und mal dort langläuft.
Und eigentlich gibt es überall hier und überall dort etwas Interessantes zu sehen. Da wäre zum Beispiel Menasses genauer Blick auf die Frage, wie die Menschen – vorrangig in Deutschland und Österreich – denn so zur EU stehen. Nahezu folgerichtig muss dann die reflexhafte, wutbürgerliche Ablehnung der EU von Menschen, die ihr bockiges „Gegen-alles-sein“ als kritisches Denken missverstehen, thematisiert werden. Menasse macht Angst als Ursprung dieser Ablehnung aus, und kritisiert in diesem Zusammenhang, unter vehementem Kopfnicken meinerseits, dass der Umgang mit Angst, ja geradezu die Definition des Begriffes „Angst“ selbst, in den letzten Jahren massiv verändert wurde, dahingehend, dass gebetsmühlenartig auch von politischer Seite wiederholt wird, man müsse „die Sorgen der Menschen ernst nehmen“ – so hanebüchen diese Ängste auch sein mögen. Anstatt darauf zu verweisen, dass diese Ängste unbegründet sind.
Auf der anderen Seite dann steht Menasse selbst, der beklagt, dass er seinerseits nun wieder starke Angst vor eben diesen wütenden Menschen habe, während sich dann aber keiner fände, der darauf dränge, auch diese Angst ernst zu nehmen.
Ein zweiter größerer Themenblock beschäftigt sich mit den Problemen, die die EU in ihrer jetzigen Form so hat, ausgehend unter anderem von einem in den letzten Jahren immer größer werdenden Einfluss der Nationalstaaten über den Europäischen Rat, der sich zudem Kompetenzen zugesichert hat, die ihm auf Basis der entsprechenden Verträge eigentlich gar nicht zustehen. In Summe war für mich persönlich dieser Teil der lehrreichste und erhellendste.
Sehr schnell wird dann deutlich, was zudem das Anliegen des Herrn Menasse ist: Er plädiert dafür, ein nachnationales, quasi staatenloses Gesamteuropa zu bilden, und untermauert diese Forderung unter anderem mit der Behauptung, dass ein Europa der Staaten eben immer noch kein wirklicher Friedensgarant wäre, wie beispielsweise der Jugoslawien-Krieg gezeigt hat.
Unabhängig davon, wie man zu dieser Forderung steht, ist Menasses Essay nicht an jeder Stelle lehrreich und erhellend. So springt seine Argumentation zuweilen zu kurz. Er argumentiert beispielsweise, dass der Nationalismus in Deutschland von der gesellschaftlichen Mitte auf die Ränder übergegriffen habe, unterstützt durch die WM 2006, die dazu beigetragen habe, „wir sind wieder wer“ zu denken, und wieder Fahnen aufhängen zu dürfen und so weiter. Wohin der Nationalismus und das rechte Gedankengut führt, konnte man aber bereits anlässlich solcher Anschläge wie dem in Mölln oder Solingen oder den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen sehen. Und das war Anfang der 90er. In der Zeit zwischen 1990 und 1993 hat rechte Gewalt nach entsprechenden Angaben bis zu 58 Menschenleben gefordert. Der Nationalismus und die hässliche Fratze des Gedankengutes dahinter sowie die Folge von beidem war zum Zeitpunkt der WM also schon lange im Land, ja, war eigentlich nie wirklich weg. Dass in diesem Zusammenhang das Aufhängen einer Deutschlandfahne anlässlich einer Grillfeier zu einem WM-Spiel nebst Absingen der Hymne das personifizierte Böse darstellen soll, um das mal überspitzt zu formulieren, erscheint da doch eher skurril.
Ähnlich verhält es sich mit Menasses Betrachtung zu den Folgen der Deutschen Einheit, bei der er Problemstellungen definiert, die meines Erachtens an den Tatsachen vorbeigehen.
Darüber hinaus macht er es sich mit seiner Argumentation, insbesondere wenn es um die Argumente der Verfechter des Nationalstaates steht, ein bisschen zu leicht. Regelmäßig erklärt er alles, was gegen seine Sichtweise eingewendet werden kann, pauschal als nicht stichhaltig. Und auch wenn es mal konkret wird, wie beispielsweise bei dem Gegenargument, dass auch ein nachnationalstaatliches Europa letztlich nichts anderes sei, als ein neuer Superstaat, bleibt die Gegenrede schwach. Dem entgegnet Menasse nämlich lapidar, dass das ja niemand wolle, und was niemand wolle, könne demnach niemals eintreten. Ein Blick in die Weltgeschichte zeigt aus meiner Sicht, dass diese Gegenbehauptung allerdings schwer haltbar sein dürfte.
Darüber hinaus könnte ich darauf verweisen, auch kein unbedingter Anhänger von Menasses Idee zu sein, wäre in der Pauschalablehnung sämtlicher Gegenargumente für den Autor damit aber wohl einer jener „Nationalisten, die sich selbst nie so bezeichnen würden“. Ich kann damit leben …
Alles in allem ist Menasses Essay aber eine sehr lehrreiche und lesenswerte Lektüre, die ich allen wärmstens empfehlen kann. Insbesondere, da demnächst Europa-Wahl ist, zu der ich übrigens bitte, zahlreich hinzugehen. Nicht nur, aber sicherlich auch, weil die Leute, die alkoholisierte, wohlstandsverwahrloste Blagen, die rassistische Lieder auf Urlaubsinseln singen, als Gaudi oder Kavaliersdelikt oder etwas, dass man schon mal machen kann, hinstellen, ganz sicher zu dieser Wahl gehen werden.
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Fraggle
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Kommentare
Die Welt von morgen
Robert Menasse erklärt und verteidigt – im Jahr der Europawahl – die europäische Idee, lädt aber auch dazu ein, die systemischen Widersprüche der Union zu kritisieren und zu überwinden. Die Alternative, vor der wir stehen, ist nicht kompliziert: Entweder gelingt das historisch Einmalige, nämlich der Aufbau einer nachnationalen Demokratie, oder es droht ein Rückfall in das Europa der Nationalstaaten. Das wäre eine weitere Niederlage der Vernunft – mit den Gefahren und Konsequenzen, die uns aus der Geschichte nur allzu bekannt sein sollten.
In Die Welt von Gestern schildert Stefan Zweig das kosmopolitische Europa vor 1914. Als er seine Erinnerungen niederschreibt, existiert es nicht länger, »weggewaschen ohne Spur« von der faschistischen Barbarei. Zweig stirbt 1942. Aber das übernationale Europa bekommt nach 1945 eine zweite Chance. Visionäre stoßen ein epochales Friedensprojekt an, Grenzen fallen, der Nationalismus weicht der Kooperation.
Doch auch dieses Projekt könnte schon bald Geschichte sein. Demokratische Defizite führen zu Protest. Mannigfaltige Krisen machen den Menschen Angst. In vielen Mitgliedstaaten schüren Politiker, die von den Erfahrungen der Gründer nichts mehr wissen (wollen), einen neuen Nationalismus. Heute steht Europa wieder am Scheideweg. Wie wird die Welt von morgen aussehen?
»Die Lehren aus der Geschichte und unsere zeitgenössischen Erfahrungen führen zum selben Schluss: Nur eine gemeinsame transnationale Politik kann eingreifen, kann gestalten und ordnen, was ansonsten Zerstörung, Verbrechen und Misere produziert.«