Ungleich vereint
Vor zwölf Monaten schrieb ich hier im Post Zwei Bücher – Geschichte im Streit über das, manchmal oder oft leidige Thema Ost/West. Eigentlich ging es um die Sicht auf die DDR, die hiesige (jaja, ich schreib das gerade im Osten und ich wohne ja da) und die drübige. Beide Bücher hielt ich für lesbar, als Fazit schloss ich, dass es Zeit wäre, eine „Geschichte des deutschen Volkes 1945 bis Gegenwart“ zu schreiben...
Die Diskussion reißt nicht ab und wenn sie durch das Wahlergebnis zu den Europa-Wahlen und teilweise Kommunalwahlen in diesem Monat befeuert wurde (im September erleben wir das gleich wieder), dann kommt man an sich nicht drumrum, sich mit dem Thema wiederholt hier auf dem Blog zu beschäftigen.
Wiederum einem Vorschlag des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk folgend, scheint das Buch UNGLEICH VEREINT des Soziologen Steffen Mau geeignet zu sein, das Thema erneut zu betrachten. Es erschien erst am 17.06.2024.
Zum oben genannten Post ließ ich mich vor allem wegen einer Einlassung des Wolf Biermann (siehe dort) ein, diesmal fand ein „normaler“ Rezeptionsprozess statt, kurz, diese Buch musste ob der Empfehlung lesen. (Weniger wegen des Covers, welches schon wegen der letzten Europawahl in Auge fiel)
Inhalt: WARUM DER OSTEN ANDERS BLEIBT, ist das Buch untertitelt, und Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg. Diese Aussagen finden sich, wenn man das Buch so am Bücherregal in den Händen dreht. Geschrieben hat es diesmal kein Historiker (Hoyer) und kein Literaturprofessor (Oschmann), sondern ein Soziologe, der eine Professur für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität innehat, und sich vorher an der Universität Bremen mit politischer Soziologie und der vergleichenden Analyse von Gegenwartsgesellschaften beschäftigt hat.
Aha, „vergleichende Analyse...“: Das erfährt man, wenn man sich das Curriculum Vitae des Professors ansieht. Dies sollte schon einen Grund darstellen, sich dieses Buch genau anzusehen, ich meine zu lesen.
Der Autor beschreibt sein Buch als Versuch, in „dieser komplizierten Diskussionslage für etwas Übersicht zu sorgen.“ Der Wissenschaftler erklärt gleich noch im Vorwort dazu:
„Zudem sollte man küchenpsychologische Erklärungen vermeiden, die sich an populären Mythen zu bestimmten Gruppeneigenschaften abarbeiten oder Alltagshypothesen mit der Realität verwechseln. Wir haben es schließlich mit gesellschaftlichen Formationen und historischen Prozessen zu tun, die auf relativ komplexe Ursachenbündel zurückzuführen sind.“ (Seite 9)
(Neulich erklärte mir mal ein ehemaliger Kollege, er lese im Netz immer nur die Überschriften und die Kommentare zu (politischen) Beiträgen, dann wisse er schon, was im Beitrag steht.)
Im Buch beschäftigt sich der Autor mit fehlender Angleichung von Ost / West, ausgebremster Demokratisierung, der Bedeutung der 68er Bewegung für die Gesellschaft der Akten Bundesrepublik, ostdeutscher Identität, mit politischen Konfliktlagen, mit „Allmählichkeitsschäden“ der Demokratie und Überlegungen, diese in einem Labor der Partizipation zu reparieren.
* * *
Was sind Ossifikationen? Bei mir finden sich Ossifikationen momentan an den eingebauten Hüftgelenken, dabei geht es um die Bildung von Knochengewebe. Pathologisch kann das zu Schmerzen führen. Die Ursache dafür sind zum Beispiel Knochenbrüche oder bei einer Hüft-Endoprothese das Absägen des deformierten Oberschenkelhalses. Ein ziemlich drastischer Eingriff...
Ein solcher Eingriff in das Leben oder die Biografie der „Ostdeutschen“ war neben der Gründung der DDR, oder dem Mauerbau die Wiedervereinigung durch Beitritt zur Bundesrepublik. Und der führte einerseits zu pathologischer Verknöcherung aber auch zur Regeneration. Der Begriff in der Überschrift des 1. Kapitels (Ossifikation durch Angleichung) hat mit „Ossis“ also gar nichts zu tun. Aber so ist er einprägsam.
Schon das Cover des zeigt die vermutete „Spaltung der Gesellschaft an“, unversöhnlich stehen sich verschiedene Lager gegenüber. Diese Lager sind mit Ost – West nur unzureichend beschreiben, mit Rechts – Links ebenso. Auch „Triggerpunkte“ wie Beitritt, Treuhand, oder Armut und Reichtum,Migration, Klima, Diversität und Gender (vgl. Mau, Lux, Westheuser: Triggerpunkte, Suhrcamp 2024), treffen die Probleme eher punktuell.
Akzeptiert werden muss, das ist die Grundaussage des Buches, dass der „Osten“ anders bleiben wird auf Grund seiner Erfahrungen, ökonomisch, politisch, in Mentalität und Identität. Warum?
Ein weiterer Punkt ist, dass die in der Bundesrepublik agierenden „alten Pateien“ (FDP, CDU, SPD) nicht im gleichen Maße (mengenmäßig) in Ortsvereinen in der Fläche vertreten sind, also nicht gleichermaßen Wirkung in Fläche entfalten können, zudem käme eine grundsätzlich Skepsis gegenüber Parteiprogrammen – dies ist Ergebnis von Jahrzehnten.
In den Diskussionen finden sich öfter Aussagen über die unterschiedliche Rolle der Zivilgesellschaft in Ost und West. Im Osten ist die Vereinsarbeit, freiwilliges und ehrenamtliches Engagement, Bürgerbeteiligung und -initiativen sowie in Wohlfahrtsverbände und Stiftungen weniger verbreitet, weniger geübt. Im Westen, wo die Parteien im Verhältnis zur Bevölkerungszahl mehr Parteimitglieder aufweisen, zu den genannten kommen die Grünen hinzu, sitzen diese den den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen. So wird Politik transportiert und diskutiert, ein Fakt, den sich heute im Osten die AFD zum Beispiel in den freiwilligen Feuerwehren förmlich sichert. Daher ist die Demokratisierung weniger weit fortgeschritten.
Ökonomisch kommt hinzu, dass trotz fortwährender Angleichung von Arbeitslohn, Gehältern und Renten, die Vermögensbildung eine andere ist, der Unterschied zwischen Arm und Reich sowieso, aber zusätzlich in einem bedeutenden West/Ost-Gefälle zu erkennen ist.
Nicht nur ökonomische Bedingungen in diesem Sinne haben in drei Jahrzehnten zu demographischen Veränderungen geführt. Geringere Bevölkerungszahlen, andere Altersstruktur: War die Gesellschaft der DDR 1989 jünger als die der BRD, ist es jetzt anders herum.
Die Ost-Identifikation scheint problematisch, weil die Geschichte der Familien, ihr Leben, Arbeit, Schule, Studium, Erfolge in der Gesamtbetrachtung keine oder kaum eine Rolle spielen.
„Eine differenzierte Diskussion über die vielen Graustufen des Lebens im DDR-Sozialismus kam zumindest in den 1990ern bis in die 2000er Jahre nicht in Gang... Man hielt sich lieber mit Rote-Socken-Kapagnen auf. Zu stark war zudem die Versuchung, die DDR nur in ihrem Scheitern zu verstehen und nicht aus den inneren Prozessen von gesellschaftlichem Zwang, Anpassung und Selbstbehauptung. Das Urteil war gesprochen, bevor die Verhandlung überhaupt begann. Zudem wurde die Aufarbeitung vor allem von jenen betrieben, die in Opposition zum DDR-Regime gelebt und aus dieser Erfahrung heraus eine starke moralische Abneigung entwickelt hatten, die weite Teile der Bevölkerung nicht oder nicht in dieser Form und diesem Ausmaß teilten.“ (S. 55/56)
Zurückgreifend auf Jürgen Habermas führt mau weiter aus, dass die ostdeutsche Bevölkerung nach 1945 ihr politisches Bewusstsein nicht gleichermaßen wie in der BRD finden konnte, weil eine Diktatur nahtlos an die andere anschloss. Die BRD benötigte hierzu 1968, wobei da die Folgegeneration mit den Eltern und Großeltern „abrechnete“. Ein solcher Prozess fand in der DDR nicht statt, die Jüngeren „hinterfragten die sozialistische Treuebereitschaft der Älteren nicht“, aber sie hatten auch keine Zeit. Zu dem, so lesen wir später, ging man mit den Eltern, deren Lebensweg 1989 plötzlich einen Einbruch, nicht nur durch Arbeits- und Perspektivlosigkeit, erlitten hatte, gnädig um.
Der Blick auf das eigenen Leben in der DDR war nicht interessant. Heute kommt hinzu, dass eine förmlich doppelte „Diktatursozialisierung“, also der nahtlose Übergang von NS zur SED als Zumutung angesehen wird. Mit dem Nationalsozialismus werden Weltkrieg, Terrorstaat und Holocaust assoziert, Dinge, die man in der DDR nicht zu erkennen vermag. (Vgl. Seite 65)
Zum Schluss: In all den Diskussionen um ostdeutsche Befindlichkeiten einschließlich zu Themen wie Krieg und Frieden im Osten, Antisemitismus, Palästinakonflikt wird meines Erachtens eines aus dem Blick gelassen, auch Steffen Mau geht darauf nicht weiter ein.
Holocaust, Weltkrieg, Staatsterror - Kennzeichen des nationalsozialistischen Staates - wären in der DDR eben nicht zu erkennen gewesen, weswegen sich Diktaturvergleiche als kontraproduktiv erweisen. Ungeachtet dessen, das es Menschen in Deutschland gibt, die meinen, wir würden wieder (oder immer noch?) in einer Diktatur leben, ist die doppelte „Diktatursozialisation“ mindestens undifferenziert. Im Nationalsozialismus wurde auf Ariertum, deutsche Rasse, minderwertige Völker, deutschen Lebensraum abgestellt, Millionen Menschen deportiert, behinderte Menschen im Namen der "Volksgesundheit" ermordet, der Massenmord industrialisiert. Kindern wurde in der Schule beigebracht, dass ihre bisherigen Klassenkameradinnen und Kameraden wegen ihrer jüdischen Herkunft keinen Wert hätten. Die Bevölkerung sah bei Deportationen zu und Kampfverbände im Krieg, nicht nur die Waffen-SS, begingen nie dagewesene Kriegsverbrechen.
DDR-Kindern wurde beigebracht, dass alles staatliches Handeln um den Frieden geht, dass die Kinder aller Völker gleich seien, dass sie Freundschaft halten sollen mit allen, nicht nur mit denen, die zur „sozialistischen Staatsfamilie“ zählen sollten. Von deutschen Boden sollte nie wieder ein Krieg ausgehen. Dieser Satz zeichnet auch die Bundesrepublik angesichts der vergangen Krieges aus. Beide Staaten hielten diese Aussage hoch. Und deutsche Soldaten kämpften bis 1989 nicht in den Kriegen dieser Welt.
Die sozialistische Grundidee führte die Gleichheit (egalité) und die Brüderlichkeit (fraternité) unter den Menschen fort, dies geschah auf Kosten der Freiheit (liberté) – diese hier viel zu einfache Aussage führte allerdings zu staatlich-repressiven Methoden gegenüber denen, die vor allem den Freiheitseinschränkungen nicht folgen wollten. Das zunehmend ausgebaute Grenzregime und darunter die Verwendung von Mienen unterschiedlicher Art, militärische Waffen, trotz Helsinki 1972 und Grundlagenvertrag, steht dafür mit all den Toten auf den Konten derer, die es errichteten. Überlange Haftstrafen für Republikflucht (Haftstrafen dafür überhaupt), Schauprozesse, Hinrichtungen für Tatbestände politischer Natur, Berufs- und Studienverbote bis hin zu Ausbürgerungen – nicht die Idee wurde ad absurdum geführt, die Methoden zur Umsetzung, nur als demokratisch deklariert, führten zum Untergang des Staates, der gleichzeitig versuchte, eine andere Gesellschaftsordnung zu etablieren.
Ich gehe davon aus, dass „Für Frieden und Sozialismus“ eine Wirkung entfaltete und Grundhaltungen schuf, die heute noch dahingehend wirken, Frieden vor Freiheit zu stellen (Ukraine), Waffenlieferungen abzulehnen, Aufrüstung mindestens skeptisch zu betrachten. Oder aber eher auf Seiten palästinensischer (Terror)Organisationen gegen Israel stehen. So kurz oder falsch dies gedacht sein mag, vor allem aber führen sie zur Ablehnung der Vorstellung einer dem Nationalsozialismus ähnlichen Sozialisierung in einer Diktatur. Dieses Gerede von der „Naziecke, in die man gestellt wird“ sollte man tatsächliche oder vermeintliche rechtsnationale oder rechtsextreme Ansichten, vielleicht nur stark konservative vertreten oder auch nur bedienen, könnte daraus resultieren. Das ist keine Entschuldigung für Nichtwissen, Nichtlernen, Nichtlesen, Nichtnachdenken.
Das beide deutsche Staaten im Ergebnis gleichermaßen Verfolgte nach dem Pinochet-Putsch in Chile aufnahmen (Unidad Popular in der BRD, KPC in der DDR) steht vielleicht gleichermaßen für humanistischen Engagement in der Welt. Von zwei Staaten, deren Anerkennung in der UNO und durch die Staaten der Welt zeitweise schwierig war.
Ein Vergleich von diktatorischen Methoden ist geboten, eine Gleichsetzung der beiden deutschen Diktaturen schwierig, weil sie die Menschen unterschiedlich betrachtet und erzogen und beeinflusst hat. Die einen zogen begeistert in den letzten Weltkrieg, die anderen lehnten bewaffnete Auseinandersetzungen, Kriege als Mittel der Politik ab. Die Militarisierung der Gesellschaft, und deren andauernde Begründung zur Friedenssicherung ist zwar fragwürdig, sie hat die (anerzogenen) Einstellung zu Frieden und Krieg nicht verhindert.
Warum fragt niemand nach der Art und Weise, wie Lehrpläne für naturwissenschaftliche Fächer entstanden und die Wirkung in dem Polytechnischen Oberschulen eines ganzen Landes, sondern kritisiert nur die „Einheitsschule“ und den staatsbürgerlichen Unterricht?
Warum hat das Wort derer, die von Traumata in Kinderwochengrippen, Kindergrippen und Kindergärten reden mehr Gewicht, als das derer, die keine oder wenig Fehler in der Erziehung der Kinder (siehe Frieden und Freundschaft) sehen?
Welche wissenschaftlichen Leistungen und die Wege dahin sind weltweit anerkannt und können den Leistungen der beteiligten DDR-Bürger öffentlich zugerechnet werden?
Wann werden, auch in Fragen der Untersuchungen der Covid-19-Pademiemaßnahmen, Impfmaßnahmen beider deutscher Staaten verglichen und vor allem deren Wirkung? Neben Masern und Grippe vor allem Kinderlähmung oder Tuberkulose-Maßnahmen?
All das erklärt nicht, woher diese schleichende Anerkennung rechtsextremer Ansichten kommt, Angriffe auf Heime mit ausländischen Flüchtlingen, Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, NSU und mehr. Die Einbildung, dass die sozialistische Gesellschaft keinen Platz ließe für derartiges Gedankengut und daher Augen verschlossen wurden, führte mit zum Erhalt der Narrative von Großeltern über die sozialen Erfolge der NS-Zeit oder die Ehrenhaftigkeit der Wehrmacht, unhinterfragt, genauso wie bestimmte Narrative für die Zeit in der DDR unserer Elterngeneration wirken.
Vierzig Jahre DDR wären verständlicher, wenn dies thematisiert werden würde. Dieses Buch von Prof. Dr. Steffen Mau ist mehr als empfehlenswert...
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Kommentare
Ungleich vereint
»Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg.«
Die Diskussion über Ostdeutschland und das Verhältnis zwischen Ost und West flammt immer wieder auf. Sei es anlässlich runder Jubiläen, sei es nach Protesten – oder nach Wahlen. Und dennoch gibt es in dieser Debatte keine Verständnisfortschritte. Sie dreht sich im Kreis, auf Vorwürfe folgen Gegenvorwürfe: »Ihr seid diktatursozialisiert!« – »Ihr habt uns ökonomisch und symbolisch kleingemacht!«
Im November 2024 jährt sich der Mauerfall zum 35. Mal. Bereits zuvor konnte die AfD aus der Landtagswahl in Thüringen als stärkste Partei hervorgehen, aus den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen als zweitstärkste. In dieser Lage meldet sich der »gefragteste Gesellschaftsdeuter im Land« (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) mit einer differenzierten Intervention zu Wort.
Steffen Mau setzt sich mit prominenten Beiträgen auseinander und widerspricht der Angleichungsthese, laut der Ostdeutschland im Lauf der Zeit so sein werde wie der Westen. Aufgrund der Erfahrungen in der DDR und in den Wendejahren wird der Osten anders bleiben – ökonomisch, politisch, aber auch, was Mentalität und Identität betrifft. Angesichts der schwachen Verwurzelung der Parteien plädiert Steffen Mau dafür, alternative Formen der Demokratie zu erproben und die Menschen etwa über Bürgerräte stärker zu beteiligen.
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