Beelitz HeilstÀtten

Beelitz-HeilstÀtten. Eine Autobahnabfahrt der BAB 9, die erste, wenn man den Berliner Ring am Dreieck Potsdam verlÀsst. Auf diese Einrichtung wurden wir, Anne Parden und ich im Jahre 2016 aufmerksam, in die stillgelegten GebÀude der einst modernsten Lungenklinik der Welt hatte der Krimiautor Tim Pieper einen Tatort verlegt. Einige Jahre spÀter begab ich mich auf die Suche nach diesen Lost Places, verlorenen Orten, eben dort.
Und nun finde ich vor wenigen Wochen diesen Roman von Lea Kampe. Eine junge Frau mit einer altertĂŒmlichen Arzttasche auf einer Treppe, eines der meistfotografierten Orte in den HeilstĂ€tten. Ăber die Lost Places schrieb ich im Jahre 2019. Nach fĂŒnf Jahren scheint es mal wieder einmal Zeit zu sein.
Inhalt 1938. Eine junge Biologiestudentin könnte sich mit Tuberkulose infiziert haben. Der Arzt der einst wohlhabenden Familie ĂŒberweist Antonia Marquardt in die HeilstĂ€tten. TBC, volkstĂŒmlich Schwindsucht genannt, wurde zwar nicht eindeutig diagnostiziert, aber weil Antonias Mutter an ihr starb, gilt die Tochter als exponierte Person.
"Die schönen, von Parkanlagen umgebenen Pavillonensembles mit ihrer Mischung aus roten Dachziegeln und Fachwerk, groĂen Rundbogenfenstern, Erkern, Rosetten und spitz zulaufenden TĂŒrmchen hatten so gar nichts von einer Klinik. Die langgestreckten.hellen GebĂ€ude mit den roten Ziegelsteinornamenten, umgeben von weitlĂ€ufigen RasenflĂ€chen mit hohen LaubbĂ€umen, Tannen und Fichten, glichen eher den hĂŒbschen HĂ€usern einer Ferienkolonie an der Ostsee. Ăppige Hortensien Leuchteten in Blau und Lila, und in groĂzĂŒgigen Rabatten blĂŒhten Rosen,, Herbstastern und Dahlien. Dazwischen verliefen Spazierwege, gesĂ€umt von BĂ€nken die zum Ausruhen einluden." (Seite 18)
Die Lungenklinik leitet Professor Saalfeld, ihm zur Seite stehen der junge Arzt Henrik Westphal und Oberschwester Hilde. Die meisten Patientinnen sind Arbeiterfrauen aus den Hinterhöfen der Berliner Arbeiterviertel. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm man den Kampf auf, indem man diesen die zu diesem Zeitpunkt einzig bekannte Therapie zukommen lieĂ: Ruhe, Liegen, Spazierengehen, viel Schlaf und gutes Essen. Die vor rund 40 Jahren geplante Impfung durch Robert Koch war leider nicht von Erfolg gekrönt gewesen.
Leider schreiben wir das Jahr 1938. Die an Tuberkulose erkrankten Patientinnen und Patienten sind der âVolksgesundheitâ abtrĂ€glich. Die Lebensweise, die zu dieser Armenkrankheit fĂŒhrt, wird menschenunwĂŒrdig als asozial angesehen und die Nationalsozialisten planen, zunĂ€chst die âUndiszipliniertenâ zu separieren. Noch ist es nicht so weit und Professor Saalfeld widerspricht in der CharitĂ© den Gedanken eines âKollegenâ, der die Ă€rztliche Schweigepflicht aufheben und die Polizei gegen Infizierte vorgehen lassen will.
Antonia dagegen freundet sich mit ihrer Zimmergenossin Linde und der Arbeiterin Gerti an, auĂerdem gibt gleich zwei Verehrer...
Eine Behandlung in den HeilstĂ€tten dauert Wochen und so handelt der erste Teil des interessanten und gut lesbaren Romans hauptsĂ€chlich von den Kranken. Mit der âReichspogromnachtâ oder âReichskristallnachtâ endet dieser Teil. Antonia wird als geheilt entlassen und studiert zukĂŒnftig Medizin.
Von hier an beginnt ein neuer kontinuierlicher Spannungsaufbau der Handlung, inzwischen herrscht nĂ€mlich Krieg und die Krankenhausbetten sind natĂŒrlich gefragt. Wohin also mit diesen, dem ânationalsozialistischen Aufbauâ abtrĂ€glichen Patientinnen?
Im Reich entstehen mehrere âInstituteâ, in denen, Ă€hnlich der Euthanasie-StĂ€tten, Erkrankte mehr oder weniger durch Verhungern an der Krankheit sterben. Einer Person wird dieses Schicksal zuteil.
Antonia wechselt, inspiriert vom jungen Mediziner Henrik Westphal, die Studienrichtung von Biologie auf Medizin. Dabei lernt sie Christina kennen, diese Studentin gehört einer kleinen Widerstandsgruppe an. Deren jĂŒngere Schwester Leni lĂ€sst sich nicht abhalten, da mitzumachen, wĂ€hrend Antonia noch ablehnt und inzwischen in den HeilstĂ€tten arbeitet, eine Art medizinisches Praktikum. Die Gruppe um Christina und ihrer Freunde Ă€hnelt ein wenig der WeiĂen Rose.
Mit fortschreitenden Lesen stellt sich immer mehr die Frage, wer hier ĂŒberleben wird....
Drei HandlungsstrĂ€nge können wir ausmachen. Da ist natĂŒrlich die Hauptfigur Antonia, deren Familiengeschichte vom Niedergang einer bĂŒrgerlichen, liberalen Familie erzĂ€hlt. Von den behandelnden Ărzten wird der Professor Saalfeld herausgehoben, wenn er seinem jĂŒdischen Kommilitonen hilft, nach Amerika zu emigrieren, es wird höchste Zeit.
Als Antonia die HeilstĂ€tten als Patientin betritt, lernt sie Ronny Berggruen kennen, ein junger HJ-GefolgschaftsfĂŒhrer und glĂŒhender Nationalsozialist. Das Schicksal der BrĂŒder Berggruen ist ein zweiter Handlungsstrang. Ihr Vater ist Kommunist und Pförtner bei den HeilstĂ€tten. Immer noch im Widerstand aktiv, scheint ihn die Mitgliedschaft der Jungs in der HJ, die er vehement ablehnt, zu schĂŒtzen. Mit Familie Berggruen zeigt Lea Kampe die Zerissenheit in Familien dieser Zeit und auch, dass der Kommunist Berggruen begreift, dass der gröĂte Fehler seiner Partei die Ablehnung der Sozialdemokraten als sogenannte âSozialfaschistenâ war.
Der jĂŒngere Arzt Henrik Westphal verliebt sich in Antonia, hĂ€lt sich aber zurĂŒck, als er erkennt, dass Ronny ebenfalls ein Auge auf die Patientin geworfen hat. SpĂ€ter arbeiten sie wĂ€hrend des Medizinpraktikums in den HeistĂ€tten zusammen...
Hier erhöht sich die Spannung im Buch dramatisch, zum Beispiel, als es gilt Leni zu verstecken und Jojo, den Bruder von Ronny...
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Die HeilstĂ€tten: Immer noch sind die HeilstĂ€tten ein interessanter Ort, nicht nur wegen ihrer Eigenschaft als Lost Places. Mittlerweile werden Teile der GebĂ€ude wieder genutzt, dazu umgebaut oder modernisiert. Das herrliche Waldgebiet kann man vom Baumwipfelpfad ĂŒberblicken. Die GroĂzĂŒgigkeit der Anlagen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts einzigartig und dies kam vor allem der von TBC betroffenen armen Berliner Arbeiterschaft zu Gute. Die Mittel, die hier vom Staat ĂŒber Landesversicherungen ausgegeben wurden, sowohl im Kaiserreich, als auch in der Weimarer Republik, waren beachtlich. Das dafĂŒr in der nationalsozialistischen Zeit keine Rede mehr sein sollte und der NS-Staat auf deren Abwicklung hinarbeitete, kennzeichnet das Regime auf eine besondere Weise, erstaunt aber im RĂŒckblick nicht.
Zum Kriegsende wurden sie zu einem riesigen Lazarett, teilweise fielen auch Bomben auf die Anlage. Die Rote Armee fĂŒhrte sie als MilitĂ€rlazarett weiter...* * *
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Das Buch: Das riesige Areal bietet eine Traumkulisse und vielfĂ€ltige Möglichkeiten fĂŒr Filme, mehrfach wurden die GebĂ€ude der HeilstĂ€tten zu Drehorten, ebenso gilt das fĂŒr Romane. Dieser hier vereint vieles: Geschichte und Medizingeschichte, Spannung verbunden mit Menschlichkeit und den Verbrechen des Nationalsozialismus. Freundschaft und Liebe sind der Kit fĂŒr die Handlung und die sympathischen Figuren untereinander.
Kurz vor der Auflösung der Lungenheilanstalt und die ĂberfĂŒhrung in ein Lazarett bricht die Handlung etwas abrupt ab. Die Autorin löst mit einem Epilog im Mai 1945 die Geschichte auf, indem sie das Schicksal bestimmter handelnder Personen kurz beschreibt. Hier bekommen Leserinnen und Leser die Antwort auf die obige Frage, wer diese schreckliche Zeit denn ĂŒberleben wird.
In einem Nachwort geht die Autorin auf das Thema Tuberkulose ein und die HeilstĂ€tten ein: "Nach zeitgenössischen Aussagen glichen sie mit ihrer verspielten Architektur und den weitlĂ€ufigen Parkanlagen mehr einer Ferienkolonie als einer HeilstĂ€tte." AuĂerdem nennt sie einen sehr interessanten Artikel zum Thema "Lungenheilkunde und ihrer Institutionen im Nationalsozialismus." Dieser Artikel ist interessierte Leserinnen und Leser sehr aufschlussreich, daher verlinke ich diesen hier. Er steht als pdf-Dokument zur VerfĂŒgung.
Ein zu empfehlendes Buch in vielerlei Hinsicht.
Die Autorin: Lea Kampe, oder Iris Claire MĂŒller studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften in Heidelberg und promovierte in Yale / USA. Sie hat mittelalterliche Geschichte an der University of Maryland Europe. Ihre BĂŒcher handeln aber nicht im Mittelalter.
Zum Beispiel schreibt sie in der PIPER-Reihe âStarke Frauen der Geschichteâ.
- DNB / Piper / MĂŒnchen 2024 / ISBN: 978-3-492-06369-2 / 390 S.
- bebilderte Rezension auf Litterae-Artesque
© BĂŒcherjunge (29.05.2024)