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Die Juden im Koran

19.06.2024 - 09:12 Uhr
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In großen Teilen der Welt demonstrieren Menschen wegen des neuen Gaza-Krieges, den der Staat Israel gegen die HAMAS, der palästinesisch-sunnitisch-islamistischen Organisation, die am 7. Oktober 2023 einen umfassenden Terroranschlag mit über tausend Toten und mehreren hundert entführten meist israelischen Staatsbürgern beging. Die Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen richten sich entweder gegen die terroristische Organisation oder gegen den Staat Israel, der die HAMAS endgültig beseitigen will und den Proteste aus aller Welt über die Art der Kriegführung scheinbar wenig beeindrucken.

Dabei zeigt sich mehr als zuvor, dass die Kritik zur Kriegführung gekoppelt oder ersetzt wir durch antijudaistische, antiisraelische und vor allem antisemitische Sprüche und Sprechchöre. „Free, free palestine, from the river to the sea“ tönt es nicht nur gelegentlich. Der Spruch verlangt die Vertreibung der Juden vom Jordan bis zum Mittelmeer und damit die Auflösung, das Verschwinden des Staates Israel.

Warum ist dies so? Oder anders gefragt, gibt es dafür Gründe, die vielleicht weit vor der Einwanderungswelle von überwiegend osteuropäischen Juden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach Palästina und damit weit vor der Gründung des Staates Israel liegen?

Fragen. Die Muslime unterscheiden in ihrem heiligen Buch zwischen den Gläubigen, den Ungläubigen und denen, die die Schrift schon vor der Verkündung des Islams durch ihren Propheten Muhammed besaßen. Dies sind zuerst einmal die Juden, deren hebräische Bibel (Tanach, deren erster Teil die Tora darstellt), in Teilen bis in das 3. Jahrhundert vor der Zeitrechnung nachgewiesen werden kann. Das Alte Testament der Christen ist auf diese zurückzuführen. Vor 2000 Jahren entstehen die Evangelien, die Geschichten um Jesus Christus, das spätere Neue Testament. Die Christen sind damit ebenfalls Besitzer der Schrift, 600 Jahre bevor, der Koran seinem Propheten offenbart wurde. Die Schrift wurde auch diesen von Gott übersandt.

Der Koran bezieht sich auf viele Geschichte aus der Bibel; alle drei Religionen nennt man auch die Religionen des (gleichen) Buches. Natürlich lesen die Muslime darin von den Juden.

Das wirft die Frage auf, was sie denn von den Juden lesen, die hauptsächlich in drei Stämmen auf der arabischen Halbinsel lebten und damit auch bei Mekka und Medina und zum Beispiel in der Oase Haibar, von der noch zu schreiben sein wird.

Der Autor. Abdel-Hakim Ourghi, kam aus Algerien nach Deutschland. In Oran und Freiburg im Breisgau studierte er Philosophie und islamische Theologie, in Freiburg promovierte er im Jahr 2006. Heute leitet er den Fachbereich islamische Theologie / Religionspädagogik an der pädagogischen Hochschule in Freiburg. Der Islamwissenschaftler vertritt einen säkularen Islam, also die Trennung von Staat und Kirche, er begründete die Ibn-Ruschd-Goethe-Moschee in Berlin mit, die für einen säkularen liberalen Islam steht. Vom Autor stammen auch die beiden nebenstehenden Bücher.

Inhalt. Dieser Islamwissenschaftler sucht nun in diesem Buch nach historischen Ursachen von Antisemitismus unter den Muslimen. Auch Inhalte des heiligen Buches der Muslime, dem Koran, den viele Muslime wortgetreu auslegen, in allen Teilen für allgemeingültig halten, könnten dazu beitragen.

Eine Reduzierung der Gründe auf die Gründung des Staates Israel zurück zu führen, sei zum Scheitern verurteilt. Eine Legitimation für die geäußerte Judenfeindlichkeit fänden sich in den kanonischen Schriften des Islam. (Seite 29)

Koran-Exegese muss und will ich den Experten überlassen, interessant ist jedoch, dass der Islamwissenschaftler bei der Betrachtung der verschiedenen Suren auch von verschiedenen Zeiten dieser Offenbarung ausgeht, einer mekkanischen (Prophet Muhammad in Mekka) und einer medinischen (Muhammad in Medina). In beiden Zentren der arabischen Halbinsel lebten Juden dreier Stämme. Wir lesen, dass es zuerst um die Bekehrung der jüdischen Schriftbesitzer zu den „neuesten“ Offenbarungen Gottes ging, diese aber am Glauben festhielten und daher letztlich bekämpft worden sind. Zudem wurden sie in Glaubensdingen Konkurrenten und als eine Gefahr für das von Muhammed beabsichtigte Gemeinwesen. (Seite 129) Ourghi beschreibt dies im Kapitel V, Die Juden im Koran und Kapitel VI, Der heilige Krieg des Propheten gegen die Juden.

Juden lebten auch in einer Oase namens Haibar. Diese Gruppe wurde angegriffen, Männer enthauptet, Frauen und Kinder versklavt. Dies geschah ungefähr im Jahr 628. Diese wäre eine Begebenheit, wie es viele Auseinandersetzungen und Kriege aus religiösen oder politischen Gründen gab. Das Besondere hier ist aber, dass nenen dem Spruch „Free Palestine...“ Gelegentlich „Haibar, Haibar, oh ihr Juden! Muhammads Heer wird bald wiederkehren!“ Raketen, die 2006 durch die Hisbollah aus dem Libanon auf Israel abgefeuert wurden, importiert aus dem Iran, trugen den Namen „Haibar I“. (Seite 174)

Muslime erinnern sich also durchaus an historische Begebenheiten aus der Zeit der Entstehung der dritten „Buchreligion“.

Aus der Geschichte der verschiedenen Kalifate und der des Osmanischen Reiches ist das Thema „Kopfsteuer“ bekannt. Christen wie Juden entrichteten diese und durften daher (angeblich) ihre Religion frei praktizieren. Sicher gab es in den Jahrhunderten unterschiedliche Zeiten der Toleranz unter verschiedenen Herrschern. Dies gilt für Juden in islamischen Reichen genauso wie in christlichen Ländern, aber keinesfalls dürfte die Praxis der Kopfsteuer die Abwesenheit von Judenfeindlichkeit begründen können.

Abdel-Hakim Ourghi versucht, mit diesem Buch nicht nur die Ursachen des islamisch geprägten Antisemitismus auszuführen, er meint, eine Lösung könnte in einer neuen Erinnerungskultur liegen. Die Muslime müssen ihre Geschichte anerkennen. Dazu gehört, dass mit dem Unabhängigkeitskrieg Israels nicht nur eine Menge palästinensischer Araber flohen, aus muslimischen Ländern wurden mit diesem Konflikt Juden vertrieben, die sich nun Israel (und anderen Ländern) zuwandten.

Dabei geht es nicht nur um Vergangenheitsbewältigung, es geht auch um Vergangenheitsbewahrung. Wie Christen in Bezug auf Kreuzzüge, Hexenverbrennung und Judenverfolgung oder wir Deutschen in Bezug auf den Holocaust sollen sich Muslime ihrer Geschichte stellen.

Fundamentalisten und Terroristen mit religiösen Motiven finden sich auch in diesem Jahrhundert in der Welt. Die extremste Form entwickelte vermutlich der sogenannte Islamische Staat (IS).

Die Kriminalstatistik verzeichnet hierzulande einen neuen Anstieg antisemitischer Straftaten. Davon entfällt sicherlich ein nicht unbedeutender Teil auf muslimische Menschen, es sollte uns gleichzeitig zu denken geben, dass ein ebenso bedeutsamer Teil auf das Konto von Nichtmuslimen geht und das sind in der Masse wohl deutsche Menschen. Und das hier in diesem Land...

Fazit. Das Neue Testament ruft meines Wissens nirgends dazu auf, die Juden zu verfolgen, zu versklaven oder zu töten und das, obwohl die Hohepriester und das umstehende Volk fordern, diesen Jesus aus Nazareth zu kreuzigen. Mit der bejahenden Antwort auf die Frage, ob er „der König der Juden sei“, mag er sie provoziert haben in einem von einer fremden Macht okkupierten Landstrich voller Gewalt. Es sind trotzdem die Menschen, die dem entstehendem neuen Glauben in der Zukunft anhängen werden, die in Europa die Juden in erneuter Diaspora in Pogromen verfolgen werden, bis einer kommt, der für sie eine „Endlösung“ vorsieht.

So wie die Christen Vergangenheitsbewältigung und -bewahrung brauchen und brauchten, brauchen sie sicher auch die Muslime. Es kommt nicht darauf an, ob uralte Glaubensbücher mehr oder weniger über Völker oder religiöse Gruppen urteilen. Wobei beim Lesen von Ourghis ein Widerspruch auffällt: Einerseits wird gelegentlich behauptet, dass Juden und Muslime einst friedlich zusammenlebten (Erst die Staatsgründung Israels begründet die Feindschaft) und andererseits gilt alles im Koran als absolute Wahrheit?

In den Vereinten Nationen sind nahezu alle Länder der Erde vertreten und deren Charta haben sie unterschrieben. Es sollte so einfach sein...

Ourghi schreibt, dass der ideologisierte Antisemitismus der Islamisten 1928 mit der Gründung der Muslimbrüder in Ägypten beginnt. Das antisemitische Machwerk „Die Protokolle der Weisen von Zion“ wird damals auch in Palästina verteilt und gelesen und zeigt Wirkung. Die Aufgabe des britischen Mandats und die unmittelbare Gründung Israels, dessen sofort beginnender Krieg gegen die angreifenden Nachbarländer, der gesamte Nahostkonflikt beschreibt der Autor als Katalysator für die Verbreitung des Antisemitismus unter den Muslimen. Doch konnten die Muslimbrüder und andere unter Rückgriff auf die Geschichte und den Koran selbst, ihre Handlungen vermeintlich legitimieren. (Seite 65)

Das zu erkennen, ermöglicht auch das Buch von Abdel-Hakim Ourghi.

Es ist also nicht einfach, der Charta der UN zu folgen. Dieses Buch soll zum Verständnis übereinander, zur Vergangenheitsbewältigung- und Bewahrung beitragen. Ourhgi betont dieses Ziel immer wieder und so sollte man es lesen. "Das Zerrbild mit fatalen Folgen" ist doch hoffentlich korrigierbar.

© Der Bücherjunge


Gesamtbewertung: 4/5
Cover: 4/5
Handlung: 5/5
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Klappentext

Die Juden im Koran

Politik von Abdel-Hakim Ourghi
Cover: Die Juden im Koran Mit 23 Jahren kam Abdel-Hakim Ourghi als indoktrinierter Antisemit aus Algerien nach Deutschland. Juden galten ihm als Täter, Muslime hingegen als Opfer. Ein Zerrbild, eingebläut in Moscheen, arabischen Schulen und Hochschulen. „Möge Allah die verfluchten Juden erniedrigen und zerstören!“ – dieses Bittgebet wird bis heute in den Moscheen Algeriens und anderer arabischer Staaten freitags wiederholt. Der Koran selbst formuliert ein stereotypes Sündenregister der Juden. Also müssen die kanonischen Quellen des Islam akribisch analysiert und kritisch hinterfragt werden. Ourghis Essay versteht sich als Beitrag zu einer Reform des Islam auf dem Weg zu einer Religion des Friedens.

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