Ferdinand von Schirach: „Regen“
Er hat aufgehört zu schreiben, der monologisierende Held in Ferdinand von Schirachs neuem Buch. Nur 14 Gedichte hat der Schriftsteller ohne Werk bisher verfasst. Dennoch geht er seit 17 Jahren jeden Morgen in sein Schreibzimmer, trinkt Kaffee, raucht - und vertreibt sich die Zeit, ohne eine Zeile zu Papier zu bringen. Er ist das romantische Gegenstück zur erfolgsverwöhnten Schriftstellerbiografie von Schirachs. Auf der ersten Seite von „Regen“ betritt der gescheiterte Dichter pitschnass eine Kneipe und redet sofort drauflos. Am Tresen werden oft Sorgen verhandelt. Und die Sorge dieses Verlorenen ist seine aktuelle, ihm gar nicht angenehme Berufung als Schöffe - also Laienrichter - in einem höchst heiklen Prozess.
„Heute war der erste Tag der ersten Hauptverhandlung. Der Fall schien klar. Ein junges Ehepaar. Sie streiten sich. Das Thema: Eifersucht. Er sagt, sie sei eine Hure. Sie sagt, er habe einen zu kleinen Penis. Die Situation eskaliert. Am Ende sticht er ihr ein Messer in den Hals. Sie verblutet auf der Straße. Genauer gesagt: auf den Stufen vor ihrem Haus. Da drüben. Das ist der ganze Fall.“
Freundlicher als Camus
Dieser "ganze Fall" steht in seiner existenzialistischen Absurdität im Zentrum des kurzen Stücks, das offensichtlich von Albert Camus' Roman "Der Fall" aus dem Jahr 1956 inspiriert ist, in dem ebenfalls ein monologisierender Laienrichter die Kneipe betritt und sein absurdes Leben ausbreitet - allerdings verkommener als Schirachs Figur. Damals vermutete man, dass der Philosoph trotz des miesen Charakters von Camus' Held ein Selbstporträt zeichnete. Auch Schirachs Held lädt zur Identifikation ein. Mit 59 Jahren ist er so alt wie sein Autor, ein scheuer Melancholiker. Und wenn der Erzähler von Prousts Madeleines, Bachs Kunst der Fuge oder modernen Stilverirrungen spricht, sieht man unweigerlich Schirach selbst:
„Der Sportler, das ist der moderne Mensch. Den modernen Menschen erkennt man daran, dass er einen Rucksack trägt. Mitten auf dem Kurfürstendamm trägt er seinen Rucksack, als wolle er bergsteigen. Dabei ist Berlin völlig flach, Bergsteigen in Berlin ist unmöglich“.
Sagt der namenlose Laienrichter in Ferdinand von Schirachs Monodrama „Regen“, das im Untertitel die Gattungsbezeichnung „eine Liebeserklärung“ trägt und tatsächlich eine Liaison andeutet. An einem Morgen in Athen beobachtete der Mann eine schöne Frau, die er unbedingt ansprechen wollte, und zwar auf eine Weise, die mindestens so geistreich sein sollte wie der erste Satz, den Cary Grant im Film „Über den Dächern von Nizza“ über Grace Kelly sagte. Bildhübsch sei sie gewesen und ebenso stumm. - Aber das fiel mir nicht ein. Ich dachte an Demokrit. Idiotisch, ich weiß. ‚Alles, was existiert, ist die Frucht von Zufall und Notwendigkeit.’ An diesen Satz dachte ich.“
Schillernde Grenzen
Hier endet die Schwärmerei. Schon denkt der Mann über andere Dinge nach, über „die Selbstorganisation von Molekülen in komplexen biologischen Systemen“, über die Schönheit des Autofahrens, über aggressive Wespen. Schöffe ist ein unterhaltsamer Erzähler, der seine Bildung geistreich, aber auch penetrant zur Schau stellt. Man hört ihm gerne zu, wie Schirach selbst - der im hinteren Teil des Buches die Langfassung eines bekannten SZ-Interviews gibt: über seine eigene Schriftstellerwerdung und darüber, dass auch sein Vater ein Künstler ohne Werk gewesen sei.
Damit verschwimmt die schillernde Grenze zwischen Autor und Werk endgültig - ein poetisches Programm, das Schirach seit seinem Erfolgsdebüt „Verbrechen“ 2009 verfolgt. Diese Selbstinszenierung erinnert auch an Albert Camus, der nicht nur durch seine Schriften, sondern auch durch Bilder seiner Person berühmt wurde. Als philosophischer Doppelgänger des ikonischen Schauspielers James Dean wurde er seinerzeit wahrgenommen. Und wie Camus äußert sich auch Schirach gesellschaftspolitisch. In „Regen“ denkt der Held zunächst über die Notwendigkeit der Ambivalenz nach und von da aus über eine Welt, in der die Menschen wirklich frei und gleich geboren werden.
„Man stelle sich das einmal vor: Jeder Mensch wäre nur ein Mensch. Das wäre viel größer als der Parthenon. Vielleicht gelingt es. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Aber wenn es gelingt, dann sicher nur wegen der Ambivalenz unserer Zeit. Die Ambivalenz ist furchtbar anstrengend, ja, Sie haben Recht, aber sie ist der Schlüssel.“
Mit Sicherheit ein Kassenschlager
Ferdinand von Schirachs Erfolg liegt auch in der Literarisierung des gesunden Menschenverstandes. Offensichtlich spricht hier ein selbstbewusstes Zoon politikon. Dem man nicht immer zustimmen muss. Wenn Schirach im Interview behauptet, Hannah Arendt habe auch im hohen Alter keinen falschen Satz gesagt, so ist dieses Urteil zumindest fragwürdig, etwa mit Blick auf die jüngste Debatte um Arendts zum Teil irritierend abwertende Äußerungen über Menschen des afrikanischen Kontinents.
Die Apodiktik des Satzes ist zugleich passend im Sinne einer poetischen Strategie, die vermutlich erneut aufgehen wird. - Ein Jahr nach der Veröffentlichung von „Der Untergang“ erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Auf der Nominierungsliste für Stockholm steht Schirach sicher nicht. Sicher scheint hingegen, dass sein Stück wieder ausverkauft sein wird, dass auch „Regen“ ein Kassenschlager der kommenden Theatersaison wird, diese Liebeserklärung an eine unbekannte Frau, an die Melancholie und das Absurde, diese Verbeugung vor der Moral und auch: vor Albert Camus.
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Regen
Ferdinand von Schirachs neues Buch »Regen« ist eine Erzählung in Form eines Theatermonologs, den Ferdinand von Schirach ab Herbst 2023 im Rahmen einer großen Premierentournee auf zahlreichen deutschen Bühnen selbst sprechen und aufführen wird: Ein Mann kommt durchnässt aus dem Regen in eine Bar – auf die Bühne – und denkt über Verbrechen und Strafen nach, über das Großartige und das Schreckliche unserer Zeit, über die Würde des Menschen, die Einsamkeit, die Liebe, den Verlust und das Scheitern.