journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

Chronologie aller Bände (1 - 6)

Reihe: journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

Die Reihenfolge beginnt mit dem Buch "journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens". Wer alle Bücher der Reihe nach lesen möchte, sollte mit diesem Band von Martin Wurzer-Berger beginnen. Mit insgesamt 6 Bänden wurde die Reihe über einen Zeitraum von ungefähr 2 Jahren fortgesetzt. Der neueste Band trägt den Titel "journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens".

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  • Start der Reihe: 28.11.2022
  • Neueste Folge: 19.05.2025
Cover: journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens
  • Band: 35
  • Autor: Wurzer-Berger, Martin
  • Anzahl Bewertungen: 0
  • Ø Bewertung:
  • Medium: Buch
  • Veröffentlicht: 28.11.2022
  • Genre: Ratgeber

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

Editorial
Der Tag ist noch jung. Die Blätter an den Lindenbäumen vor meinem Büro sind in den vergangenen Tagen gelb geworden. Vom Sonnenlicht durch-flutet, scheinen sie für einen kurzen Moment ihre jugendliche Leichtigkeit des Frühlings zurückzugewinnen. Doch jeder Windhauch macht sich über ihre Kraftlosigkeit lustig und zupft sie behänd von den Zweigen. Meine Lieblings-Teeschale aus weißem, doppelwandigem Porzellan, innen glänzend und außen von matter, strukturierter Oberfläche, wie ein Seeigel ohne Stacheln, liegt angenehm wärmend in der Hand. Ich habe mir soeben einen belebenden japanischen Kukicha zubereitet, einen grünen Blattstieltee. Die nadelähnlichen Blätter und Stielstücke in hellen und dunkleren Grüntönen duften frisch und mild. Sie werden mit auf 70 °C temperiertem Wasser aufgegossen und ziehen im Kännchen eine gute Minute. In dieser kurzen Zeitspanne beobachte ich fasziniert, wie die Teebestandteile langsam an die Oberfläche steigen und inhaliere den überaus feinen Duft, der aus dem Kännchen steigt. Es ist der erste Aufguss von mehreren, die allesamt nur sehr kurz ziehen werden.
Die zwischen Grün und Gelb changierende Farbe des Tees korrespondiert mit den herbstlichen Lindenblättern. Sein Geschmack ist fein und würzig, herb und süß, algig und kräuterig. Im Nachhall überrascht der Tee mit einer zarten und doch sehr persistenten Liebstöckelassoziation. Mit jedem Aufguss verändert sich das Getränk. Die algig-grünen Aspekte treten in den Hintergrund, die herben, dezent adstringierenden Noten werden präsenter. Erspüre ich sogar eine Malznote?
Tee stand und steht für mich als Begleiter über den Tageslauf schon seit fast fünf Jahrzehnten an erster Stelle. Vor allem Darjeeling und gelegentlich Earl Grey trinke ich mit Genuss – und in rauen Mengen. Deren beider Zubereitung ist routiniert: Fast eineinhalb Liter werden im Wasserkocher sprudelnd aufgekocht. In der Zwischenzeit wird eine genau bemessene Menge Schwarzen Tees in ein Filterpapierbeutelchen gegeben. Das heiße Wasser wird darüber gegossen, der Beutel in den nächsten knapp drei Minuten mehrfach geschwenkt, dann entfernt. Der Tee bleibt in der doppelwandigen Edelstahlkanne erstaunlich lange warm, aber die letzte Tasse trinke ich gelegentlich doch kalt, woran ich mich klaglos gewöhnt habe.
Schon in den ersten Monaten der Erarbeitung unserer neuen Ausgabe des Journals lerne ich, die anderswo über Jahrtausende entwickelte, komplexe Teevielfalt nicht zuletzt in der Zubereitung für mich zu entdecken, mit sensorischen Erfahrungen zu verknüpfen und anzureichern. Weit von jeder Kennerschaft entfernt erahne ich, dass mich die davon ausgehende Faszination nicht wieder loslassen wird. Jedenfalls finde ich mich nun des Öfteren in der Küche wieder. Ich trinke nicht mehr und nicht weniger Tee, aber für die Auswahl und Zubereitung nehme ich mir Zeit und bin signifikant aufmerksamer.
Die Arbeit an der No. 35 nahm nolens volens einen typischen Verlauf. Im Kopf passten die Themen »Tee« und »Infusionen« verlockend und wie selbstverständlich zusammen: Heißes Wasser entzieht irgendwelchen getrockneten Pflanzenteilen ihren Geschmack. Die Recherche hatte kaum Fahrt aufgenommen, schon entlarvte sich der scheinbar großzügige Wurf als ein oberflächlicher. Samuel Herzog formulierte im redaktionellen Vorgespräch eine fast vorwurfsvolle Skepsis – schon wegen des schieren Facettenreichtums des Tee-Themas sei eine Verbindung beider Felder schlechterdings undenkbar. Nach jedem Gespräch mit Menschen, die sich als Produzenten und Händler oder auch »nur« als Konsumenten mit »Tee« beschäftigen, blätterte sich auch für mich die faszinierende Welt dieser einzelnen Pflanzenart aus der Gattung Kamelien in der Familie der Teestrauchgewächse weiter auf, die der Camellia sinensis.
Auch jetzt, nach Abschluss der Arbeit (und beim mittlerweile dritten Aufguss des Kukicha) staune ich anhaltend. Das Journal Culinaire hat sich in den vergangenen Jahren in nicht wenige Bereiche ordentlich vertieft und hat die bewundernswerte Innovationskraft, den erstaunlichen Ideenreichtum und die zähe Hartnäckigkeit der Menschen bewundert und gefeiert, die aus den vorgegebenen natürlichen Lebensgrundlagen eine überbordende Lebens- und Genussmittelvielfalt haben entstehen lassen. Die Tees aus der Camellia sinensis sind in ihren ziselierten Ausarbeitungen ein großartiges Beispiel. Auch wenn wir die Empirie heute theoretisch weitgehend durchdringen können (was Thomas A. Vilgis hier für uns tiefenscharf aufbereitet), bleibt die praktische Durchführung auf den höchsten Qualitätsstufen dem meisterlich-handwerklichen Können vorbehalten.
Vieles wäre noch mit Gewinn zu bedenken. Die Themen landwirtschaftliche Produktion und Handel werden ebenso wie die Geschichte nur angerissen, vor allem wird den spannenden Wegen nicht systematisch nachgegangen, die Tee aus dem Osten in die alte Welt genommen hat. Dieses Journal Culinaire möge ein zumindest solider Anreiz sein, sich nicht nur mit einem einzelnen Tee-Aufguss zufriedenzugeben. Genießen Sie einen jeden und halten Sie nicht nur Ihre sensorische Aufmerksamkeit hoch.
Cover: journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens
  • Band: 36
  • Autor: Wurzer-Berger, Martin
  • Anzahl Bewertungen: 0
  • Ø Bewertung:
  • Medium: Buch
  • Veröffentlicht: 27.05.2023
  • Genre: Ratgeber

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

In unserer Familie war das allgegenwärtige Getränk zum gemeinsamen Abendbrot Kräuter- oder Früchtetee. Er war lindgrün von gelegentlich selbst gesammelter Pfefferminze, deutlich rot und etwas säuerlich von Hagebutten und Hibiskus, selten von duftigem Gelb, das die süße Kamille dem heißen Wasser mitgeteilt hatte. Geschmacklich waren alle Varianten sehr zurückhaltend, mehr zart aromatisiert als charaktervoll.
Überhaupt waren Getränke zum Essen in der Familie geradezu verpönt. Die morgendliche Milch wurde, wie der alternative Kakao, als Nahrung begriffen. Zum Mittagessen gab es grundsätzlich nichts zu trinken. Über den Tag stand kalter Früchtetee bereit, aber klarer Sprudel (leider mit Zimmertemperatur) stand bei den meisten höher im Kurs. Das änderte sich auch nicht, als meine Mutter dazu überging, die Tees vorsichtig zu süßen.
Denn ab Mitte der 1970er Jahre begann bei uns die Holunderepoche. Sie währte mehrere Jahrzehnte. Waschkörbeweise wurden Holunderblüten gesammelt. Die wurden mit reichlich feinsäuberlich in Scheiben geschnittenen Zitronen und genau abgemessenen Mengen Zucker und Wasser einige Zeit unter gelegentlichem Rühren mazeriert. Nach dem Abseihen wurde der leichte Sirup kurz aufgekocht, wobei die aufschwemmenden Holunderpollen abgeschöpft wurden. Auf Flaschen gezogen reichte die Menge über das ganze Jahr. Gelegentlicher Schimmel – die Twist-off-Deckel der Flaschen waren nach vielmaligem Gebrauch eine Schwachstelle – wurde unaufgeregt entfernt.
Der singuläre Holunderduft des Sirups war durchaus gewöhnungsbedürftig. Schmackhaft gemacht wurde er uns mit dem Hinweis auf das gesunde Vitamin C der Zitronen. Ein ambitionierter Versuch, aus Holunderblüten mit denselben Zutaten einen spritzigen Sekt zu gewinnen, ging allerdings spektakulär fehl. Nicht wenige Flaschen zerbarsten im Vorratskeller oder entleerten sich eruptiv – selbst beim Versuch, sie mit Vorsicht zu öffnen. Von einem feinen Geschmack waren die wenigen scheinbar gelungenen Exemplare weit entfernt. Wir Kinder durften probieren – was von unserer Seite vor allem von der Aussicht motiviert war, erlaubterweise etwas Alkoholhaltiges zu verkosten. Es blieb bei einem enttäuschenden Versuch. Leckerer waren die Holunderblüten, wenn sie in Pfannkuchenteig ausgebacken wurden.
Früchte- und Kräutertees begleiteten uns Heranwachsende auch aushäusig. Legendär die heißen oder lauen Farbwässer in robustem Hotelporzellan, häufiger Krüge denn Kannen, dargeboten morgens wie abends in Sommerlagern oder Tagungshäusern. Abgezapft wurden sie aus monströsen Edelstahl-Tee-töpfen, in denen einzelne Teebeutel vergeblich ihresgleichen suchten. Im einen oder anderen Fall schmeckte das heiße Wasser verdächtig nach den Spülschwaden, die aus der geöffneten Großküchentür in den Speisesaal waberten.
Die konturarmen und nicht wirklich positiv stimmenden Infusionserfahrungen der Kindheit und Jugend erfuhren während einer Provencereise eine positive Wendung. Zum Abschluss eines erfreulichen Restaurantbesuchs im pittoresken Cucuron am Luberongebirge orderten wir – es ist nicht mehr zu rekonstruieren, wer oder was uns da geritten hat – zum Abschluss keinen café, sondern eine tisane. Serviert wurde eine Glaskanne mit heißem Wasser – und ein ordentliches Büschel Thymian, eigentlich ein veritabler Zweig. Die schlichte Präsentation wie das markante, würzig-staubig-trockene Aroma des kleinblättrigen Krauts, das sich mit dem zweiten und dritten Tässchen noch verstärkte, war überwältigend und überzeugte uns fortan von in Wasser aufblühender Kräuterkraft.
Bei anderer Gelegenheit besuchten wir Thymian in einem seiner natürlichen Habitate. Die kalkigen Spitzen der Dentelles de Montmirail im Département Vaucluse westlich des Mont Ventoux pieksten den unwirklich blauen Himmel der Provence. Hier wachsen mit dem Gigondas die wuchtigsten Rotweine und gleichermaßen die duftigsten süßen Muscats der Provence. Unweit der (damals) ruinösen Kapelle Saint-Hilaire nordwestlich und oberhalb von Beaumes-de-Venise, in den steilen, nur scheinbar unwirtlichen Weinbergen, kündigte der Thymian sich früh mit seinem Duft an. Womöglich wären wir an ihm vorbei-gegangen, so unscheinbar war er. Er war fast eins mit seinem Standort. Erst dachten wir, er sei so grau, weil bestäubt vom ausgedörrten Boden. Wir nahmen das eine oder andere Zweiglein mit, aber auch nach dem Baden behielt er seinen gräulichen Ton. Es war schließlich ein Kaninchengericht, dem der Weinbergthymian sein Parfum zuerst mitteilte. Das ist unvergessen.
Die schreiend bunte Vielfalt von Kräuter- und Früchteteemischungen in den Regalen des Lebensmitteleinzelhandels ist bemerkenswert. Grafikdesign und Marketinglyrik treffen sich zur großen Feier. Für jede Tages- und Nachtzeit, jegliche optimistische wie depressive oder allgemein gesundheitliche Befindlichkeit, für jede definierbare soziologische Gruppe gibt es zielgenaue Angebote, meist portioniert zur bequemen Anwendung. Selbstverständlich werden in einem Segment, in dem jeder Bundesbürger statistisch über ein halbes Pfund vertrinkt, das sind etwa 35 Kästchen à 20 Teebeutel, interessante Erträge erwirtschaftet. Geforscht wird nicht nur in Bezug auf Rückstände in den pflanzlichen Rohstoffen und auf sensorisch erfolgreiche Mischungen. Auch in der Verarbeitung der Rohstoffe sind durch Patente geschützte Verfahren entwickelt worden, die neue Anwendungen ermöglichen. Doch darüber Auskunft zu erhalten ist ein eigenes Kapitel.
Der Weg für eigene Infusionsversuche jedoch ist kurz und meist erfreulich.
Cover: journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens
  • Band: 36
  • Autor: Wurzer-Berger, Martin
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  • Ø Bewertung:
  • Medium: Buch
  • Veröffentlicht: 07.11.2023
  • Genre: Autobiographie

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

Einen ungewöhnlichen Blick auf die menschliche Ernährung wirft das Journal Culinaire No. 37 »Hungern und Fasten«. Immer wieder leuchteten beide Aspekte schon in früheren Ausgaben auf. Unter anderen haben Anna Daller, Regina Frisch und Herbert Buckenhüskes in den Journal Culinaire No. 14 »Öl, Butter und Schmalz«, No. 18 »Frische Milch«, No. 22 »Wurst vom Metzger«, No. 27 «Reifung als Kulturleistung« oder No. 32 »Vegetarisch und vegan« in ihren Beiträgen bedenkenswerte Inhalte zusammengetragen, die eine erneute Lektüre verdienen. Nun schlagen wir zeitlich wie thematisch einen weiten Bogen von freiwilligem »Fasten« aus historischer und gegenwärtiger Sicht bis zu erlittenem oder selbst auferlegtem »Hungern«. Das führt unzweifelhaft in einen Grenzbereich menschlicher Existenz, der sonst selten ins Gesichtsfeld gelangt.
Ändern wir uns oder werden wir geändert? Ein mündiger Bürger in gesicherten Lebensverhältnissen ist sich seiner individuellen Freiheitsrechte bewusst und verwahrt sich gegen jegliche Eingriffe, auch bei seiner Ernährung. Er muss sich aktiv mit seiner Essbiografie und -gegenwart auseinandersetzen und hat sie – im Guten wie im Schlechten – selbst in der Hand.
Cover: journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens
  • Band: 38
  • Autor: Wurzer-Berger, Martin
  • Anzahl Bewertungen: 0
  • Ø Bewertung:
  • Medium: Buch
  • Veröffentlicht: 08.05.2024
  • Genre: Kochbuch

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

Auf ihrem langen Weg vom Schwarzwald ins Schwarze Meer durch- schneidet die Donau nicht weniger als fünf Gebirge. »Eisernes Tor« wird der landschaftlich dramatische, deutlich über einhundert Kilometer lange Karpaten- Durchbruch der Donau genannt. Die Verengung des kilometerbreiten Stroms auf bis unter 150 Meter bedeutet eine gewaltige Beschleunigung der Wassermassen, die sich über Katarakte abwärts wälzen. Erst in den 60er- und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts beruhigte der Bau eines Stau- und Kraftwerks die Situation.
Auf halber Strecke des Engtals, am südlichen Prallhang des Flusses in Höhe einer der mächtigsten Stromschnellen, entwickelte sich ab 9000 v. Chr. die Siedlung Lepenski Vir im heutigen Serbien. Sie liegt auf einer Terrasse 60 bis 70 Meter über dem Wasser; auf der gegenüberliegenden Stromseite steigen die Berge bis auf eine Höhe von 300 Metern und mehr an. Das Mikroklima ist mild-feucht und zeichnet sich durch geringe Temperaturschwankungen aus. Der Ort hat es zu einiger Bekanntheit gebracht im Hinblick auf die epochale Entwicklung von Jägern – hier Fischern – und Sammlern hin zu Landwirtschaft betreibenden dörflichen Gemeinschaften. Die sogenannte Neolithisierung Südost- und Mitteleuropas erfolgte nach allgemeinem Verständnis nicht aus den mesolithischen Gruppen heraus. Es waren zahlreiche migrierende Gruppen aus dem Ägäischen Becken, die im 7. bis 6. Jahrtausend v. Chr. die Domestikation von Pflanzen und Tieren sowie dörfliche Kultur gleichermaßen mit sich führten. Lange koexistierten sie neben den Jägern und Sammlern. Das schien in Lepenski Vir anders verlaufen zu sein. In der Wissenschaft etablierte sich die Vermutung, dass sich an diesem Ort der Übergang vom Mesolithikum zum Neolithikum direkt vollzogen habe, indem die Fischer die Lebensweise und Praxis der Zuwanderer übernommen hätten.
Maxime Brami aus der Palaeogenetik-Gruppe von Joachim Burger am Institut für Organismische und Molekulare Evolutionsbiologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist mit seinen Forscherkolleginnen vor knapp zwei Jahren zu einer differenzierenden Interpretation gekommen. Mithilfe antiker Genome und archäologischer und isotopischer Belege verifizierten sie, dass es innerhalb zweier Generationen zu einer genetischen Vermischung der Bauern und Jäger kam. Die außergewöhnliche Bedeutung von Lepenski Vir wird also bestätigt. Doch Hausbau – und damit Dorfstruktur – und Ackerbau bleiben nach den Untersuchungen weiterhin nur den Bauern zugerechnet. Allerdings und ausschließlich an diesem Ort dokumentierbar übernahmen die ägäischen Bauern neben Bestattungsgewohnheiten auch Ernährungsgewohnheiten der Fischer. Umgekehrt gibt es kaum Hinweise, dass die Fischer dieser Zeit landwirtschaftliche Produkte konsumiert hätten.
Das ist eine – zumindest mich – faszinierende Momentaufnahme aus einem zeitlich unglaublich gedehnten Prozess, in dem die Menschheit die naturgegebenen Pflanzen und Tiere domestiziert hat, um ihre Ernährung qualitativ zu steigern und verlässlich zu gewährleisten.
Das Journal Culinaire No. 38 Kulturpflanzenentwicklung versucht, die großen Bögen im Blick auf die Pflanzenzucht nachzuzeichnen. Die Weinrebe, der Mais, der Roggen und das Kohlgemüse sind dafür instruktive Beispiele mit nicht wenigen Überraschungen. Den einzelnen Pflanzen vorgeschaltet wird ein konzentrierter Beitrag über die Absichten und die Praxis, unter denen »Züchtungen« über die Zeitläufte vonstatten gingen. Von vergleichbarer Bedeutung ist der abschließende Artikel, der kritisch verschärfende Einsichten über die Zukunft der Zuchtmethoden vermittelt, die unter »Gentechnik und neue genomische Verfahren« verhandelt werden. Dass der Rückweg in die Wildpflanzenzeit im Einzelfall offengehalten wird, zeigt ein kleines Projekt zur Erhaltung genetischer Ressourcen am Beispiel der Wildselleriearten.
Es erscheint als Zeichen von Wertschätzung, sich gelegentlich der großen Linien zu vergewissern – bevor der Blick sich zum wiederholten Mal darauf fokussiert, welche Pflanzenproteine einem ohnehin von sich aus proteinreichen Magerquark zur scheinbaren Optimierung zugesetzt werden.
Cover: journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens
  • Band: 39
  • Autor: Wurzer-Berger, Martin
  • Anzahl Bewertungen: 0
  • Ø Bewertung:
  • Medium: Buch
  • Veröffentlicht: 01.11.2024
  • Genre: Ratgeber

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

Schon lange, seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden, seit Menschengedenken, schon immer – eine andauernde Nutzung wird bei Lebensmitteln regelmäßig als verstärkendes, bestärkendes und letztlich beruhigendes Argument für sicheren und bekömmlichen Konsum angeführt. Das ist in zahlreichen Fällen richtig und erfüllt nicht selten seinen Zweck. Doch skeptische Blicke und sorgfältige Analysen auf längerfristige Entwicklungen verhelfen zu erhellenden Differenzierungen. Das hat Uwe Spiekermann vor einigen Jahren mit seiner auch im Journal Culinaire besprochenen Veröffentlichung »Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute« (Journal Culinaire No. 27, S. 145-148) eindrucksvoll gezeigt. In seinen Texten mahnt er eindringlich einen realistischen Geschichtsbezug in der Ernährungsdiskussion an (https://uwe-spiekermann.com/category/geschichten/). Denn überraschend vieles, was als neues Lebensmittel oder Trend angepriesen wird, erblickte unter anderen Vorzeichen schon vor geraumer Zeit das Licht der Welt.
Nicht erst seit Anna Lowenhaupt Tsings Essay »Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus«, Berlin 2018, ist ein überschäumendes Interesse an der nach Flora und Fauna dritten, durch Pilze charakterisierten Welt offensichtlich. Erst seit fünfzig Jahren ist sie als eigenständig klassifiziert. Aus und mit ihr erhoffen sich Protagonisten und Protagonistinnen vielfältige Anregungen und Erkenntnisse für die drängendsten Probleme der Gegenwart. Ist ein Zeitalter der Pilzphilie oder Mykophilie angebrochen?
Der Neuzeithistoriker Jon Mathieu nimmt die bemerkenswert positive Stimmung zum Anlass, gemeinsam mit dem früheren Direktor des historischen Museums Bern Jakob Messerli, einen lesenswerten Beitrag zu veröffentlichen: Die Entdeckung der Pilze in der Moderne. Das Beispiel Schweiz, 18.–20. Jahrhundert (in: Historische Anthropologie 32/1 [2024], S. 19-38). Die Autoren legen ihren Finger auf einen blinden Fleck im aktuellen Pilzhype. Ihre weitgehend auf die Schweiz beschränkten Beobachtungen bezüglich der Speisepilze konstatieren in der frühen Neuzeit eine grundsätzlich mykophobe Grundeinstellung. Die Nutzung der Speisepilze war »von überlieferten mykophoben Lehrmeinungen, von botanischen und später auch chemischen und ernährungswissenschaftlichen Forschungen und ihrer Popularisierung durch die zunehmende Zahl von Medien, von Versorgungslagen und Verdienstmöglichkeiten der breiten Bevölkerung, von Lebensmittelkontrollen …« bestimmt. Sie vermuten, dass bei entsprechenden Forschungen orschungen die erhobene Grundeinstellung auch in an deren europäischen Regionen nachzuweisen wäre. Von der Mykophobie bis zur Mykophilie vergingen über eineinhalb Jahrhunderte. Schnell wurde die kritische Haltung den Pilzen gegenüber vergessen, nicht selten wird unreflektiert von einer seit Menschen-gedenken währenden Pilznutzung gesprochen.
Das Journal Culinaire macht regelmäßig auf die Pilzwelt aufmerksam – nur in der Ausgabe No. 3 finden Pilze keine Erwähnung. Neben den vielen Arti-keln zu Fermentationen, die sicherlich zu den Lieblingsthemen des Journal Culinaire zählen, sei auf den Beitrag von Marco A. Fraatz und Holger Zorn Speisepilze generieren natürliche Aromen. Aus Reststoffen der Lebensmittelindus trie werden Duftstoffe im Journal Culinaire No. 17 oder von Verena Mittermeier-Klessinger Pfifferlinge. Schmackhaftes Gold aus heimischen Wäldern im Journal Culinaire No. 34 erinnert. Nun schien es an der Zeit, das Thema in den Fokus der No. 39 zu rücken.
Einen ordentlichen Platz nimmt in dieser Ausgabe die Ausstellung Pilze – Verflochtene Welten ein, die vor einigen Wochen im Museum Sinclair-Haus der Stiftung Kunst und Natur in Bad Homburg vor der Höhe eröffnet hat. Der Beitrag der Direktorin des Hauses und Kuratorin der Ausstellung spricht für sich. Das zu jeder Ausstellung erscheinende, beispielhafte museumspäda-gogische Blattwerk (https://kunst-und-natur.de/files/Museum-Sinclair-Haus/Ausstellungen/ 24_Pilze/Blattwerke_22_Pilze.pdf) verdient ein besonderes Lob. Ebenso informativ ist das Begleitheft. Blattwerk wie Begleitheft sind auf der Webseite des Sinclair-Hauses abrufbar (https://kunst-und-natur.de).
Ihnen wünsche ich Genuss und differenziertes Verständnis bei allen Pilzen, denen Sie begegnen!
Cover: journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens
  • Band: 40
  • Autor: Wurzer-Berger, Martin
  • Anzahl Bewertungen: 0
  • Ø Bewertung:
  • Medium: Buch
  • Veröffentlicht: 19.05.2025
  • Genre: Ratgeber

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

Durch die Frage nach Düften in der Küche steigen vielfältige Erinnerungen empor. Erinnerungen vor Allem an die reifen, würzigen oder einfach ungewöhnlichen Düfte geschätzter Produkte und Gerichte, ebenso an zahlreiche angenehme Koch- und Bratendüfte. Ganz vorne auf der Hitliste werden die Aromen gerade aus dem Ofen gezogener Plätzchen oder von knusprigem Hefe- oder Sauerteigbrot stehen. Einer meiner Lieblingsdüfte entsteht in dem Moment, wenn die für eine Roux erhitzte Mischung aus Mehl und Butter gerade beginnt, etwas Farbe anzunehmen. Der Duft ist vergleichbar einer um gebackene Getreidearomen angereicherten Nussbutter, oder ähnlich einer gebackenen Pâte Brisée, einem nicht süßen Mürbeteig. Allgemein werden positive Eindrücke in der Erinnerung dominieren.
Doch Küchendüfte sind nicht nur angenehm: Schwaden dringen aus dem geöffneten Geschirrspüler. Reifer Livarot, Epoisses, Munster oder andere Rotschmierkäse liegen auf einem Holzbrett, um Raumtemperatur anzunehmen. Die Schalen von gepulten Nordseekrabben liegen schon geraume Zeitbereit für die Biotonne. Rotbarben warten darauf, geputzt zu werden. Der Abfluss der Spüle läuft seit einigen Tagen nicht wie gewohnt ab. Ausgerechnet das letzte Blech Plätzchen ist blau geworden.
Die Fülle und Bandbreite der ständig und in jeder Lebenssituation sich fast unkontrollierbar einstellenden Dufteindrücke ist nicht nur in der Küche komplex. Welchen Düften und Gerüchen gelingt es, Aufmerksamkeit zu erregen? Und aus welchen Gründen – und wie lange?
Den mühsamen Weg zu einem sachgerecht reflektierten Verständnis der Düfte, beginnend in der Antike, zeichnet Alain Corbin in seinem empfehlenswerten Buch Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs (Paris 1982) nach. Zwei Schlaglichter: Ob Individuen beispielsweise aufgrund schlechter Gerüche dahingerafft wurden oder schlicht aus Sauerstoffmangel, konnte erst nach Klärung der Luftzusammensetzung und der Rolle des Sauerstoffs unterschieden werden. Anekdotisch ist sein Zitat von Jean-Joseph Brieude, um den charakteristischen Geruch der regionalen Bevölkerung als Ergebnis ihrer Essgewohnheiten zu beschreiben: »Wenn zur Erntezeit all diese Völker in unseren Kantonen zusammenströmen, kann man diejenigen, die aus dem Quercy und dem Rouergue kommen, leicht am stinkenden Knoblauch- und Zwiebelgeruch erkennen, während die Einwohner der Auvergne eher nach ranzig werdender Molke riechen.« (Mémoire sur les odeurs que nous exhalons, considérées comme signes de la santé et des maladies, in: Histoire et Memoires de la Société Royale, Paris 1798).
Das lenkt den Blick wie zufällig auf eine verbürgte Begebenheit. Gut zwei Jahrhunderte später berichtet ein westfälischer Bauer am Rand einer Ortschaft in Münsters Süden aus seiner Jugendzeit: In einer Osternacht sei er wie immer recht spät, unmittelbar vor dem Lumen Christi, in die St.-Sebastian-Kirche geeilt. In dem stockdunklen Gotteshaus habe er seine Hand vor den Augen nicht sehen können. Doch sei es ihm problemlos möglich gewesen, die Sitzreihe seiner Familie zu finden (die Gottesdienstbesucher saßen in jenen Tagen noch Höfeweise in den Bänken): Am charakteristischen Duft einer jeden Hofstelle habe er sich auf seinem Weg durch die Kirche sicher orientieren können.
Solcherlei Erzählungen wirken – spätestens nach dem werbewirksamen Slogan von 1972 »Banner bannt Körpergeruch« – in der durchdesodorierten Welt länger als nur fünfzig Jahre vergangen.
Das Journal Culinaire No. 40 »Küchendüfte« beleuchtet Aspekte zeitgenössischer Duftforschung. Der menschliche Geruchssinn kann mehr, als ihm gelegentlich zugebilligt wird. Genießen und nutzen sie ihn, doch bleiben sie ihm gegenüber kritisch.

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