Die Entdeckung allen Lebens
Das 18. Jahrhundert war eine Zeit wissenschaftlicher Erkenntnisse, die dazu beitrugen, unsere Sicht auf die Welt gravierend zu verändern. Dabei fand Wissenschaft in diesem Jahrhundert in einem aus heutiger Sicht skurrilen gesellschaftlich-religiösen Rahmen statt, aus dem auszubrechen, sich die wenigsten leisten konnten. Die Protagonisten dieses Buches, Carl von Linné und Georg-Louis de Buffon verkörpern in diesem Zusammenhang gewissermaßen Gegenpole (nicht nur) bei der Herangehensweise an ihr Ziel, „erstmals alles Leben auf der Erde zu finden, zu verstehen und zu benennen.“ Der amerikanische Journalist, Jason Roberts, hat die Biografien der Kontrahenten in die von ihnen wesentlich beeinflusste und faszinierende Geschichte der Entdeckung der Tiefenzeit, der Evolution und die Entstehung der Biologie in großartiger Weise eingebettet.
Der Hungerleider und der Großerbe
Unterschiedlicher hätten die Persönlichkeiten und Voraussetzungen für die Karriere der beiden Wissenschaftler kaum sein können. Auf der einen Seite der zierliche Carl Linnaeus, Pfarrerssohn mit Leidenschaft für das Sammeln von Blumen, sozial eher am unteren Ende der Gesellschaft angesiedelt, auf der anderen Seite der stattliche Georg-Louis Leclerc (später Buffon), Sohn eines wohlhabenden (verhassten) Salzsteuereintreibers, Großerbe und mittelmäßiger Schüler ohne zunächst erkennbare Interessen. Kein Wunder, dass ihre Karrieren so unterschiedlich verlaufen sind. Denn Carl musste sich mit einer eigentümlichen Hartnäckigkeit und Selbstdarstellungssucht seine durchaus zweifelhafte Universitätskarriere hart erhungern, Georg-Louis hingegen wurde allein durch seine Erbschaft geradezu in die Oberschicht mit all ihren Protektionen und Möglichkeiten katapultiert.
Zwischen christlichem Schubladendenken und wissenschaftlichem Freigeist
Möglicherweise spielten die sozialen Voraussetzungen auch bei den Grundhaltungen der beiden Zeitgenossen eine Rolle, immerhin konnte sich Carl von Linné mental nie von der biblischen Schöpfungsgeschichte lösen, während Buffon deren Grenzen schnell erkannte und ihren Rahmen infrage stellte. Carl von Linné gebührt das Verdienst, die Grundlage der bis heute gängigen taxonomischen Nomenklatur gelegt zu haben, Buffon hingegen hatte das Prinzip der Evolution „entdeckt“ und Linnés starre Einteilung der vermeintlich unveränderlichen Schöpfung abgelehnt. Keine Frage, Buffon galt zu Lebzeiten als führender und brillanter Kopf der europäischen Naturforschung, doch am Ende setzte sich die deutlich einfachere und handhabbarere Philosophie der linnéschen Nomenklatur in der Biologie durch.
Zwischen Kirche und Revolution
So faszinierend die Lebensgeschichten, Persönlichkeiten und Denkansätze der beiden Protagonisten auch sind, mindestens ebenso aufregend ist der zeitgenössische gesellschaftlich-politische Rahmen, den der Autor vor seinem Publikum ausbreitet. Das sich nämlich am Ende die eigentlich für die systematische Erfassung und das Verständnis „allen Lebens“ recht ungeeignete Linnésche System in der Biologie durchsetzte, ist weniger wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern mehr oder weniger externer Ereignisse zuzuschreiben. Da waren zum einen die immer noch mächtige Kirche und das Gros der Naturwissenschaftler und ihrer Institutionen, die eifersüchtig versuchten, all jene in ihre Schranken zu verweisen, die, wie Buffon, die biblische Schöpfungsgeschichte infrage stellten.
Dass innerhalb der Wissenschaftswelt auch damals schon ein gewisser Konkurrenzkampf um Anerkennung, Forschungsaufträge, Posten und Ruhm eine Rolle spielte, versteht sich nahezu von selbst. Dass aber unter anderem die Französische Revolution dazu führte, dass sich zunächst selbst in Buffons Heimatland die eingeschränkte Weltsicht Linnés und seiner Apostel durchsetzte, dürfte so manch LeserIn überraschen. Auch Darwin war übrigens überrascht, als er 1860 eher zufällig auf das Werk des 1788 verstorbenen Buffon stieß und anerkennend feststellte, dass Buffons Theorien „in lächerlicher Weise den meinen ähnlich“ sind.
Der Versuch der Erfassung und Beschreibung allen Lebens geht weiter
„Die Entdeckung allen Lebens“ ist weit mehr als nur eine Biografie zweier bedeutender Naturwissenschaftler der Aufklärung, es ist ein Stück Wissenschaftsgeschichte, die in dem Buch nicht mit dem Ableben der beiden Protagonisten endet, sondern auch deren Folgen bis in die heutige Zeit beleuchtet. Da tauchen bekannte Namen wie Banks, Huxley oder Mendel auf, da werden die historischen Hintergründe und Folgen der unwissenschaftlichen Rassentheorie beschrieben und am Ende werden die Errungenschaften der Gensequenzierung und DNA-Analysen vorgestellt, die zeigt, dass das Jahrhunderte währende Ringen um eine systematische Erfassung und Beschreibung „allen Lebens“ noch längst kein Ende gefunden hat.
Ein grandioses Buch für alle, die sich für Wissenschafts- und Naturgeschichte interessieren und verstehen wollen, was es mit der ständig in Bewegung befindlichen Taxonomie eigentlich auf sich hat.
Wolfgang Schwerdt
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