Wolfgang Schwerdt

Die Hamburger Südsee-Expedition

07.06.2024 - 08:39 Uhr
Cover: Die Hamburger Südsee-Expedition

Zwischen 1908 und 1910 fand eine wissenschaftliche Expedition in deutsche Kolonialgebiete des Pazifiks statt. Diese als Hamburger Südseeexpedition in die Kolonialgeschichte eingegangene Unternehmung hat der 2019 verstorbene Hamburger Ethnologe und ehemaliger Direktor des Hamburgischen Museums für Völkerkunde (heute Museum am Rothenbaum), Hans Fischer, beschrieben. In seiner 1981 erstmals erschienenen und nun neu aufgelegten Fallstudie dokumentiert er die Verwicklungen zwischen Kommerz, Politik und Wissenschaft in der Ära des Kolonialismus.

Eine bedrückende Zeitreise

Fischer begibt sich mit seiner Fallstudie mitten hinein in die deutsche Kolonialzeit. Er schreibt nicht nur über sie, sondern lässt die Protagonisten der Südseeexpedition über die offiziellen Dokumente wie Forschungsanträge, Forschungskonzepte oder Sammelleitlinien aber auch persönliche Notizen selbst ihre jeweiligen Zielsetzungen, wissenschaftliche, ideologische und individuelle Einstellungen, Vorurteile und Konzepte berichten. Und der Protagonisten gibt es viele.

Da seien zum einen die Wissenschaftler selbst genannt, die im untrennbar miteinander verwobenen Geflecht von wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Interessen agieren müssen. Allein die Tatsache, dass Forschung in den gewaltsam angeeigneten Kolonialgebieten des staatlich-militärischen Schutzes bedurfte, zeigt die Rahmenbedingungen, unter denen (nicht nur) dieses Forschungsunternehmen arbeiten musste.

Das rassistische Weltbild aus erster Hand

Aber bereits beim Forschungsantrag, mit dem ja zum Zwecke der Finanzierung vor allem die Bedürfnisse der Geldgeber zumindest verbal berücksichtigt werden mussten, zeigen sich die systemischen Abhängigkeiten der Wissenschaft von den ökonomisch-politischen Strukturen des Kolonialismus. Schließlich waren es die Hamburger Kaufleute und der Senat, die die Südsee-Expedition ausgerichtet und damit ganz bestimmte Erwartungen an die Art und die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit verbunden hatten. Denn das noch junge, im kolonialen Kontext entstandene Wissenschaftsgebiet der „Völkerkunde“ fand in einem sogenannten Schutzgebiet statt. Unter Schutz standen dabei nicht etwa die indigenen Gesellschaften, sondern die Interessen der dort mit staatlichen Hoheitsrechten ausgestatteten weißen Kolonialisten, den Vertretern von Hamburger Handelshäusern und Plantagenbesitzern. Deren Erwartungen an die Wissenschaft zitiert Fischer aus der Antragsschrift des damaligen Direktors des Museums für Völkerkunde, Georg Thilenius, folgendermaßen: „Der Eingeborene ist in den Tropen der Arbeiter des Weißen und wird gegenüber dem Importierten stets der billigere sein. Durch den Rückgang oder das Aussterben der […] Bevölkerungen ist mittelbar der europäische Besitz gefährdet.“ Daher, so die aus kolonialer Sicht logische Schlussfolgerung, habe die Wissenschaft die Aufgabe, dieser Entwertung vorzubeugen.

Koloniale Konkurrenzen

Hinsichtlich der „Hamburgischen Interessen“ formuliert Thilenius 1905 das Anliegen seines Hauses folgendermaßen: „Für die Praxis des Museums handelt es sich damit um eine Spezialsammlung, welche so vollständig ist und das zu wählende Gebiet so gründlich erschöpft“, dass ein späterer Versuch von anderer Seite, etwas Ähnliches aufzubauen, von vornherein ausgeschlossen ist. So zeigt Fischer in seiner Fallstudie auf, wie nicht nur in der Südsee die materiellen Relikte der durch den Kolonialismus sowohl kulturell als auch physisch zerstörten indigenen Gesellschaften unter systematisch „abgesammelt“ und in den Völkerkundemuseen aufgehäuft werden konnten. Die ideologische Legitimationsgrundlage war der Rassismus und die Vorstellung von der Überlegenheit des Weißen, die auch im Rahmen der Hamburger Südsee-Expedition durch militärische „Strafexpeditionen“ durchgesetzt wurde.

Die Schatten der Vergangenheit

Hans Fischer hat mit seiner Fallstudie am Beispiel der Expedition und seiner Protagonisten recht unterschiedlichen Charakters ein eindringliches, wissenschaftlich fundiertes und gut dokumentiertes Bild des Kolonialsystems mit all seinen Facetten und Abhängigkeiten gezeichnet, dem sich niemand entziehen konnte. Er beschreibt auch die persönlichen Spielräume, die die Wissenschaftler innerhalb der vorgegebenen rassistischen Strukturen hatten und nach der Lektüre wird deutlich, wie viel dieser dem Kolonialismus zugrunde liegenden Ideologien und Vorstellungen noch heute in unseren Köpfen unreflektiert vorhanden ist. Und so erlaube ich mir, an dieser Stelle aus dem vorderen Klappentext des Buches zu zitieren:

„Die Teilnehmer der Südsee-Expedition sind der Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen, unsere Grenzen und Begrenzungen, unsere Selbstüberheblichkeit […] unsere Arroganz in der Meinung, wir hätten die besseren und richtigeren […] Anschauungen. Wer seine eigenen Fehler in der Geschichte nicht wiederfindet, der findet sie auch heute nicht.“ Hans Fischer

Hans Fischer: Die Hamburger Südsee-Expedition. Über Ethnographie und Kolonialismus. Berenberg 2022.


Gesamtbewertung: 5/5
Cover: 4/5
Handlung: 5/5
Blogger: Wolfgang Schwerdt

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Klappentext

Die Hamburger Südsee-Expedition

Sachbuch von Hans Fischer
Cover: Die Hamburger Südsee-Expedition Hans Fischer, einer der bedeutendsten deutschen Ethnologen, dokumentierte in diesem erstmals 1981 erschienenen Buch eine für die Interessen des deutschen Kolonialismus besonders aufschlussreiche »völkerkundliche« Unternehmung:
Anhand der von 1908 bis 1910 von Hamburger Kaufleuten und dem Senat der Hansestadt ausgerichteten Südsee-Expedition zeigt sich anschaulich, wie Wirtschaftsinteressen, Kolonialpolitik und Rassismus eine auch von
ehrlichen Forschungsinteressen getragene Unternehmung beeinflussten und ihr eine historische Besonderheit
verliehen. Heute, angesichts der Debatten über das, was in europäische Museen gehört oder als Raubgut zurückgegeben werden soll – nicht zuletzt auch angesichts der Diskussionen um die Präsenz des polynesischen Prachtboots, der ethnologischen Ikone im Berliner Humboldt Forum –, ist dieser Bericht aus der kolonialistischen Praxis von großer Aktualität.

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