Weil ich ein Inuk bin
LeserInnen, die sich wie ich recht intensiv mit dem Kolonialismus beschäftigen, verarbeiten das Buch sicherlich unter einer speziellen Perspektive. Und so ist die Biografie Johann August Miertschings, Mitglied der weltweit organisierten und missionierenden protestantischen Herrnhuter Brüdergemeine, nicht nur die Wiedergabe der Lebensgeschichte eines zweifellos vielschichtigen, vielleicht sogar besonderen, in jedem Fall aber bemerkenswerten Menschen seiner Zeit. Mechthild und Wolfgang Opel gelingt es auch, den/die LeserIn durch die akribische Auswertung von Miertschings schriftlichen Hinterlassenschaften sowie langjährigen, weltweiten vor Ort-Recherchen in die damalige Zeit, die Vorstellungen, Werte und ideologisch-religiösen Zwänge hineinzuziehen.
Vier Jahre Eishölle
In das Licht der Öffentlichkeit geraten war der zu jener Zeit in Labrador als Missionar der Inuit tätige Miertsching, als er auf Empfehlung der Gemeine von der britischen Admiralität als Dolmetscher für der Suche nach der verschollenen Franklin-Expedition angeheuert wurde. Denn in der Missionsstation auf Labrador hatte er sich nicht nur die Sprache der dortigen Inuit angeeignet, sondern sich auch intensiv mit deren Kultur und Denkweisen auseinandergesetzt. Die vierjährige Expedition an Bord des Schiffes HMS Investigator verlief letztendlich erfolglos, Miertschings Reisetagebuch hingegen gehört heute zu den Standardwerken der deutschen Polarwissenschaften. Die AutorInnen von Weil ich ein Inuk bin, haben für ihre Biografie zudem bislang unbekannte persönliche Aufzeichnungen Miertschings ausgewertet und damit nicht nur ein eindrucksvolles Bild von den Bedingungen der Arktisreise mit ihren Überwinterungen, die Mensch und Material an ihre Grenzen brachten gezeichnet. Sie vermitteln dabei ebenfalls die Gedanken, Zweifel und Sehnsüchten des Missionars, der mit der Formulierung „weil ich ein Inuk bin“ die Akzeptanz und Anerkennung unterstreicht, die ihm bei den Kontakten mit den Indigenen im Rahmen der Expedition entgegengebracht wurde.
Glaube, Zweifel, Schicksalsschläge
Doch das Lebensbild des Johann August Miertsching beinhaltet weit mehr als die Episode, mit der der Missionar Berühmtheit erlangte. Mechthild und Wolfgang Opel zeichnen das Leben des Mannes von seiner Geburt, bis zu seinem detailliert und engagiert bis ins kleinste überkommene Detail. Wenn dem/der Leserin das gelegentlich ein wenig ermüdend erscheint, so gibt dies bei genauerer Betrachtung doch das Lebensgefühl jener Zeit wieder, in der das Leben neben Entbehrungen und Schicksalsschlägen, Veränderungen und Herausforderungen, religiösen und ideologischen Beschränkungen und Zwängen eine gewisse Beschaulichkeit an den Tag legte, eine Beschaulichkeit aber auch Fremdbestimmtheit, die den meisten von uns in dieser Form heute unbekannt ist. Unbekannt bleiben aber trotz aller Akribie bei der Erforschung der persönlichen Spuren auch die tatsächlichen Gedanken, Einstellungen und der Charakter des Protagonisten. Und das, was die AutorInnen des Buches diesbezüglich zwischen den Zeilen ihrer präsentierten Dokumente herauslesen, dürfte ebenso subjektiv sein, wie das sicherlich gelegentlich abweichende Urteil der LeserInnen.
Ein Lebens- und Zeitbild
Man mag das menschliche Engagement und den Versuch, sich im Rahmen seiner Missionsarbeit in indigene Kulturen hineinzuversetzen bewundern, man mag sein missionarisches Wirken als Teil der Vorbereitung und Sicherung kolonialer Herrschaft durch europäische Akkulturation wahrnehmen, in jedem Fall lohnt sich die Lektüre. Denn Mechthild und Wolfgang Opel ist es gelungen, ein lebendiges Zeitbild zu zeichnen, in dem sich der/die Leser beinahe unwillkürlich gedrängt sieht, eigene Positionen zu den Geschehnissen und Intrigen, Widersprüchen und Verhaltensweisen der beteiligten Personen und Institutionen einzunehmen.
Mechthild und Wolfgang Opel: Weil ich ein Inuk bin. Johann August Miertsching. Ein Lebensbild. Lukas 2022. Gebunden, 271 Seiten
Wolfgang Schwerdt
Blogger bei LeseHitsBücher zu Kulturgeschichte, Seefahrt, Mensch-Tier-Studien und me(h)er.