Die Urwälder Amazoniens
Amazonien ist eine ökonomisch, ökologisch und ideologisch bemerkenswerte Weltregion, die von jeher auch als Projektionsfläche von aus der europäischen Kulturgeschichte hervorgegangenen Vorstellungen und Sehnsüchten dient. In „Die Urwälder Amazoniens“ haben die Herausgeber zehn Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen und damit wissenschaftlichen Perspektiven versammelt, um die interkulturellen Beziehungsgeflechte mit globaler Wirkung dieser mythenumwobenen Region darzustellen.
Von Europa ins Paradies
Bereits der Name Amazonien hat einen europäischen Hintergrund, denn die Namensgeber, die spanischen Konquistadoren, verorteten dort nicht nur die Heimat von aus der griechischen Mythologie bekannten kriegerischen Amazonenvölkern, sondern, geradezu erschlagen von den ersten Eindrücken des von Leben, Natur und natürlichen Ressourcen nur so strotzenden Landes auch das Paradies. Doch es waren nicht zuletzt die Mythen und Berichte der Indigenen dieser buchstäblich neuen, unverstandenen Welt, die von den Europäern in Bekanntes transferiert wurde. Denn die Besucher aus der Alten Welt hatten weder Amazonen mit eigenen Augen gesehen, noch waren sie in das Eldorado, das paradiesische Goldland gelangt.
Und wer hat‘s erfunden?
Auch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Expeditionen der Europäer des 18. Und 19. Jahrhunderts waren nicht nur von aufgeklärtem Geist, sondern auch von eurozentrischen Perspektiven und Darstellungen geprägt. So galt es natürlich für die europäischen Mächte ausbeutbare Ressourcen zu entdecken und nutzbar zu machen. Dazu gehörten unter anderem medizinische wirksame Pflanzen der tropischen Wälder, von denen ohne indigenes Wissen und Führung unsere gefeierten Naturforscher wohl nie etwas erfahren hätten. Faszinierend in diesem Zusammenhang der Aufsatz von Jens Soentgen „Die Erfindung des Gummis durch die Ureinwohner Amazoniens und die Darstellung in westlichen Kautschukhistoriografien“.
„Südamerikanische Verhältnisse“
Mit dem Blick auf die aktuellen Konflikte um Ressourcen, Klimaschutz und Interessen der indigenen Bevölkerung beschäftigen sich die Autoren mit der Erdölexploration und dem Bergbau in der Amazonasregion. Hier wird dem/der LeserIn bewusst gemacht, welche komplexe Gemengelage zwischen den Interessen der Indigenen, der europäisierten Einwohner, den Besitzenden und Besitzlosen, den global agierenden Konzernen, den Regierungen und den Umweltbedingungen in dieser „globalen Kontaktzone“ existiert.
Europäische Sehnsüchte und verlorene Welten
Im Dritten Kapitel „Reisen in Zeit und Raum“ widmen sich die AutorInnen der Amazonas-Region zunächst aus wissenschaftshistorischer Sicht, indem sie anhand der Reise der Naturforscher Johann von Spix und Carl Friedrich von Martius im Jahr 1817 aufzeigen, wie sehr das damalige europäische Wissenschaftsverständnis „mit seinen Praktiken der Klassifizierung, Beschreibung und Darstellung von Pflanzen, Tieren und Menschen“ bei solchen Expeditionen von der Kooperation mit Netzwerken (meist unerwähnter) einheimischer Informanten, Wissens- und Informationssammlern, Zuträgern und Mitarbeitern abhängig war.
Der Beitrag „Urwald und Urzeit in internationalen Tropennarrativen“ begegnen wir u.a. dem Schriftsteller Doyle, der mit „The Lost World“ europäische Vorstellungen und Diskurse von Evolution und Zivilisation auf die (von ihm nie besuchte) Amazonasregion projiziert. Auch in den anderen vom Autor aufgeführten Beispielen findet sich vor allem europäische Krisenbewältigung der Kolonial- und postkolonialen Zeit wieder. Und der Schlussbeitrag befasst sich am Beispiel von Patrick Devilles Amazonia (2019) mit dem Urwaldroman des 21. Jahrhunderts. Der, so der Autor in seinem aufschlussreichen und sehr informativen Aufsatz, der weit über eine reine Rezension hinausgeht, „verleiht dem Genre … mit genealogischen und ökologischen Fragestellungen eine neue Dimension“.
Geistige Kontaktzone zwischen den wissenschaftlichen Schubladen
Alles in allem ein sehr empfehlenswertes Buch, dass allein aufgrund der verschiedenen Perspektiven auf die Region als Kontaktzone, Lebensraum und Projektionsfeld in dem/der LeserIn eigene Perspektiven generiert. Und das am Ende nicht nur auf die Region Amazonien, sondern auch generell auf Ökologie, Geschichtsverständnis bzw. -schreibung, Globalisierung, das europäische Selbstverständnis oder die Krisen unserer Zeit.
Wolfgang Schwerdt
Blogger bei LeseHitsBücher zu Kulturgeschichte, Seefahrt, Mensch-Tier-Studien und me(h)er.
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Die Urwälder Amazoniens
Die Wälder des Amazonas-Beckens weisen die größte Biodiversität aller tropischen Wälder auf. In den letzten Jahren ist Amazonien infolge der ausgedehnten Landnahmepraxis, der weitläufigen Rodungen und Waldbrände jedoch buchstäblich zum Brennpunkt eines Konflikts zwischen den Interessen der Agrarindustrie und der Sorge um den Fortbestand des Planeten Erde geworden.
Die Urwälder Amazoniens versammelt interdisziplinäre Perspektiven auf eine von jeher ökonomisch und ideologisch umkämpfte Weltregion. Zehn historische, umwelt- und wissenschaftsgeschichtliche, ethnologische, literatur- sowie politikwissenschaftliche Fallstudien geben fundierte Einblicke in das lokale Beziehungsgeflecht mit globaler Reichweite, von den ersten Vorstößen spanischer Missionare und Soldaten, über die wissenschaftlichen Expeditionen des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zu aktuellen Auseinandersetzungen um Zugang, Kontrolle oder Nutzung der Urwälder und der in ihnen enthaltenen Ressourcen.
Eine immer wieder aufscheinende Kernthese ist die Unhaltbarkeit des nicht nur in Lateinamerika unterstellten Gegensatzes zwischen Zivilisation und Barbarei, der nicht-industrialisierten Kulturgemeinschaften bis heute die Existenzgrundlage entzieht. Ein Leitmotiv zahlreicher Beiträge liegt daher in der Konfliktlinie zwischen nachhaltigen, ‚minimalinvasiven‘, indigenen Lebensweisen vor Ort und einer tiefgreifenden, die Biodiversität Amazoniens beeinträchtigenden Verwertungsmentalität externer Akteur*innen.
Einer fatalen Resignation angesichts der Genozide, Öko- und Epistemizide in Amazonien versuchen die Beiträge mit dem kenntnisreichen Aufdecken von globalen Zusammenhängen zu begegnen. Dass Amazonien nicht nur eine Weltregion, sondern auch ein ideengeschichtlicher Topos ist, den europäische Gesellschaften mitgestaltet haben und daher auch in Zukunft schützend mitgestalten müssen, ist eine These, zu der die Autor*innen neue Ideen und Erkenntnisse beisteuern. Einige Beiträge lateinamerikanischer Forscher*innen wurden für den Band erstmals ins Deutsche übersetzt.
Mit Beiträgen von María Fernanda Abdo García, Nelson Chacón Lesmes, Nils Droste, Maximilian Feichtner, Philip Gondecki Safari, Miriam Lay Brander, Anna Meiser, Ana Pizarro, Manuel Schusterbauer, Jens Soentgen und Jobst Welge.