Wolfgang Schwerdt

Die Erfindung des Rades

11.06.2024 - 09:12 Uhr
Cover: Die Erfindung des Rades

Das Rad gilt als eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit, gleichzusetzen mit dem Gebrauch des Feuers, der Metallverarbeitung und der Schrift. Mit dieser Feststellung folgt der Kulturwissenschaftler Harald Haarmann der konventionellen technologie- und herrschaftsorientierten Geschichtsbetrachtung, die sich auch im Untertitel seines Buches „Als die Weltgeschichte ins Rollen kam“ niederschlĂ€gt. Dabei greift er neuere Forschungsergebnisse hinsichtlich der UrsprĂŒnge der Radtechnologie auf und verortet die „Erfindung“ des Rades in zwei Zentren: der alteuropĂ€ischen Donauzivilisation und der mesopotamischen Zivilisation im Mittleren Orient.

Die ersten RĂ€der

NatĂŒrlich ist die „Erfindung“ des Rades oder besser, die Anwendung des Scheibe-Achse-Prinzips eine recht komplexe Angelegenheit, die nur wenig mit den Prozessen „technologischer Innovation“ im heutigen Sinne zu tun hat. Und so hat „man“ das Rad auch nicht gezielt als Lösung eines MobilitĂ€ts- oder TransportbedĂŒrfnisses „erfunden“, sondern es entwickelte sich, wie archĂ€ologische Funde belegen, lange vor seiner Anwendung am Wagen in der Keramikproduktion. Die drehbare Töpferscheibe gilt als die primĂ€re Innovation in Bezug auf die Radtechnologie, die sich erst Jahrtausende spĂ€ter in Wagen als Transportmittel und den legendĂ€ren Streitwagenheeren der Großreiche niederschlug. Und so ist auch das erste Kapitel der Erfindung des Töpferrads in Europa und dem Mittleren Osten gewidmet.

Und wer hat‘s erfunden?

In der eurasischen Kontaktzone von Ackerbauern und Steppennomaden lassen sich im 4. Jahrtausend die Ă€ltesten Experimente mit Rad und Achse nachweisen. In diesem Kapitel prĂ€sentiert Haarmann neben der Entwicklung vom Scheibenrad zum Speichenrad auch das Spektrum der Zugtiere, die fĂŒr die anfangs schweren, klobigen GefĂ€hrte eingesetzt wurden. Neben Ochsen Esel und Pferden, die fĂŒr den eurasischen Raum charakteristisch sind, wurden beispielsweise in China, dass die Radtechnologie wohl von eurasischen Steppennomaden adaptiert hatte, WasserbĂŒffel angespannt. Kamele sind als Zugtiere aus Zentralasien nachgewiesen und aus der Mongolei ist ein Felsenbild bekannt, auf dem ein zweirĂ€driger Karren von einem Rentier oder Hirsch gezogen wird. Der Geschichte des Wagens und seiner Verbreitung geht der Autor auch sprachlich auf den Grund. Dabei verortet er die frĂŒhe Spezialterminologie der Radtechnologie im proto-indoeuropĂ€ischen Grundwortschatz. SpĂ€ter auch als eigenstĂ€ndige Terminologie im AlteuropĂ€ischen.

Machtfaktor Streitwagen

Der Verbreitung von Rad und Wagen aus dem euroasiatischen Kerngebiet ĂŒber die alte Welt bis nach China widmet sich das dritte Kapitel und im vierten Kapitel „Die Ära der Streitwagen“ landet der/die LeserIn schließlich dem gefĂŒhlten Hauptteil des Buches. Da geht es um Streitwagenschlachten, und Kampfwagenkonzepte, um Wagenlenker und Pferdeausbildung und ProduktionsstĂ€tten sowie die Folgen des kriegerischen MobilitĂ€tsschubes fĂŒr die Machtkonstellationen der vorderorientalischen und Ă€gyptischen Großreiche. Verbunden waren die Streitwagenkulturen mit einer mythologischen Überhöhung des zweirĂ€drigen Herrschaftsinstruments, insbesondere in der griechischen Welt, dessen Symbolkraft sich bis in die jĂŒngste Zeit vor allem in der europĂ€ischen Welt erhalten hat.

Religiöse Bedeutung

Doch auch in den Riten, Religionen, Mythologien und Philosophien anderer Kulturen hat die Radsymbolik einen zentralen Stellenwert eingenommen. Selbst dort, wo das Rad nie praktische Anwendung fand, wie beispielsweise bei den Maya, war das Rad in vielfĂ€ltiger Funktion fester Bestandteil der mythologisch-religiösen SphĂ€re. Anders bei den anderen indigenen amerikanischen Kulturen, bei denen das Rad weder mythologisch noch praktisch eine Rolle spielte. Die ErklĂ€rung hierfĂŒr ist kurz und folgt dem klassischen Muster der Besonderheiten des unwegsamen Landes und des Fehlens geeigneter Zugtiere. Nach meinem DafĂŒrhalten ein wenig oberflĂ€chlich, denn, wie Kapitel 7 „Wege und Straßen“ zeigt, bauen die Menschen bei entsprechendem Willen eben geeignete Wege und ob in der aus europĂ€ischer Sicht „Neuen Welt“ beispielsweise mit Lamas geeignete Zugtiere verfĂŒgbar gewesen wĂ€ren, lĂ€sst sich naturgemĂ€ĂŸ nicht zuverlĂ€ssig feststellen. Schließlich waren auch Esel, Rentiere, und die Altweltverwandten der Lamas, die Kamele, nicht als Zugtiere geboren.

Die „Modernisierung“ der Welt

Aber wie auch immer, unsere europĂ€ische Technologie mit ihrem Produktions- und Zerstörungspotential wĂ€re ohne das Rad kaum denkbar gewesen. Und insofern passt der Untertitel des Buches aus eurozentrischer Sicht. Denn ohne Einsatz der Radtechnologie wĂ€re die europĂ€ische globale Expansion, die ĂŒberlegene Kriegsmaschinerie, die Industrialisierung kaum gelungen. Deutlich wird dies in Kapitel 8 „RĂ€derwerke: Auf dem Weg ins Maschinenzeitalter“. Das beginnt mit den antiken und mittelalterlichen Rammböcken und BelagerungstĂŒrmen auf RĂ€dern und fĂŒhrt zur archimedischen Schraube, deren VorlĂ€ufer mutmaßlich Anwendung im BewĂ€sserungssystem fĂŒr die hĂ€ngenden GĂ€rten der Semiramis fanden. Göppel, Getriebe und ZahnrĂ€der lieferten die Basis fĂŒr unzĂ€hlige Anwendungen in Energie- und Rohstoffgewinnung oder in der Zeitrechnung. Im rund einseitigen Epilog liefert der Autor schließlich einen Ausblick in die Zukunft und konstatiert: „Die Modernisierung der Welt wird immer von einer multifunktionalen Radtechnologie geprĂ€gt bleiben.“

Harald Haarmann: Die Erfindung des Rades. Als die Weltgeschichte ins Rollen kam. C.H.Beck 2023, Hardcover 191 Seiten.


Gesamtbewertung: 4/5
Cover: 4/5
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Klappentext

Die Erfindung des Rades

Sachbuch von Harald Haarmann
Cover: Die Erfindung des Rades ALS DIE WELTGESCHICHTE INS ROLLEN KAM - DER SIEGESZUG EINER ERFINDUNG

RĂ€der und Wagen sind erstaunlich junge Errungenschaften. Der Kulturwissenschaftler Harald Haarmann erklĂ€rt anhand neuerer Funde und Forschungen, warum die bahnbrechende Erfindung eher in Alteuropa und der Eurasischen Steppe – nicht im Zweistromland – zu verorten ist und wie sie sich von hier aus in der Alten Welt verbreitet hat. Als religiöse Symbole zeugen RĂ€der und Wagen bis heute davon, wie tiefgreifend sie die frĂŒhen Hochkulturen geprĂ€gt haben.

Als man in Alteuropa, Ägypten und Mesopotamien lĂ€ngst StĂ€dte baute, Hochöfen betrieb und schreiben konnte, wurden Lasten noch von Eseln, Kamelen und Menschen geschleppt oder – als Gipfel der Technik – auf Schlitten durch den Sand und ĂŒber rollende StĂ€mme gezogen. In den sĂŒdamerikanischen Hochkulturen gab es ĂŒberhaupt keine RĂ€der. Harald Haarmann zeigt zunĂ€chst, wie um 5000 v. Chr. in der Donauzivilisation das Töpferrad erfunden wurde. Es sollte noch einmal rund tausend Jahre dauern, bis in der Eurasischen Steppe – in einer hochmobilen Gesellschaft und einem geeigneten GelĂ€nde – erstmals Wagen aufkamen. Von hier aus verbreitete sich die Innovation schnell in alle Himmelsrichtungen: nach Europa, Mesopotamien, Indien und China. Um 2000 v. Chr. begann die Ära der Streitwagen, mit denen sich weite RĂ€ume beherrschen ließen. Es war die BlĂŒtezeit der altorientalischen Großreiche. Die VerdrĂ€ngung der Streitwagen durch hochmobile Reitereien konnte den Siegeszug des Rades nicht aufhalten: Transportwagen, SchöpfrĂ€der, SpinnrĂ€der und Zahnradgetriebe haben die Welt verĂ€ndert und tun das bis heute.

  • Die wichtigste Erfindung der Menschheit – und warum sie so relativ jung ist
  • Neue archĂ€ologische Erkenntnisse zur Herkunft des Rades aus der Eurasischen Steppe
  • Wie das Rad neue Weltreiche entstehen ließ, den Handel beflĂŒgelte und zum mĂ€chtigen Symbol in Philosophie und Religion wurde
  • Mit zahlreichen farbigen Abbildungen

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