Die Erfindung des Rades

Das Rad gilt als eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit, gleichzusetzen mit dem Gebrauch des Feuers, der Metallverarbeitung und der Schrift. Mit dieser Feststellung folgt der Kulturwissenschaftler Harald Haarmann der konventionellen technologie- und herrschaftsorientierten Geschichtsbetrachtung, die sich auch im Untertitel seines Buches âAls die Weltgeschichte ins Rollen kamâ niederschlĂ€gt. Dabei greift er neuere Forschungsergebnisse hinsichtlich der UrsprĂŒnge der Radtechnologie auf und verortet die âErfindungâ des Rades in zwei Zentren: der alteuropĂ€ischen Donauzivilisation und der mesopotamischen Zivilisation im Mittleren Orient.
Die ersten RĂ€der
NatĂŒrlich ist die âErfindungâ des Rades oder besser, die Anwendung des Scheibe-Achse-Prinzips eine recht komplexe Angelegenheit, die nur wenig mit den Prozessen âtechnologischer Innovationâ im heutigen Sinne zu tun hat. Und so hat âmanâ das Rad auch nicht gezielt als Lösung eines MobilitĂ€ts- oder TransportbedĂŒrfnisses âerfundenâ, sondern es entwickelte sich, wie archĂ€ologische Funde belegen, lange vor seiner Anwendung am Wagen in der Keramikproduktion. Die drehbare Töpferscheibe gilt als die primĂ€re Innovation in Bezug auf die Radtechnologie, die sich erst Jahrtausende spĂ€ter in Wagen als Transportmittel und den legendĂ€ren Streitwagenheeren der GroĂreiche niederschlug. Und so ist auch das erste Kapitel der Erfindung des Töpferrads in Europa und dem Mittleren Osten gewidmet.
Und wer hatâs erfunden?
In der eurasischen Kontaktzone von Ackerbauern und Steppennomaden lassen sich im 4. Jahrtausend die Ă€ltesten Experimente mit Rad und Achse nachweisen. In diesem Kapitel prĂ€sentiert Haarmann neben der Entwicklung vom Scheibenrad zum Speichenrad auch das Spektrum der Zugtiere, die fĂŒr die anfangs schweren, klobigen GefĂ€hrte eingesetzt wurden. Neben Ochsen Esel und Pferden, die fĂŒr den eurasischen Raum charakteristisch sind, wurden beispielsweise in China, dass die Radtechnologie wohl von eurasischen Steppennomaden adaptiert hatte, WasserbĂŒffel angespannt. Kamele sind als Zugtiere aus Zentralasien nachgewiesen und aus der Mongolei ist ein Felsenbild bekannt, auf dem ein zweirĂ€driger Karren von einem Rentier oder Hirsch gezogen wird. Der Geschichte des Wagens und seiner Verbreitung geht der Autor auch sprachlich auf den Grund. Dabei verortet er die frĂŒhe Spezialterminologie der Radtechnologie im proto-indoeuropĂ€ischen Grundwortschatz. SpĂ€ter auch als eigenstĂ€ndige Terminologie im AlteuropĂ€ischen.
Machtfaktor Streitwagen
Der Verbreitung von Rad und Wagen aus dem euroasiatischen Kerngebiet ĂŒber die alte Welt bis nach China widmet sich das dritte Kapitel und im vierten Kapitel âDie Ăra der Streitwagenâ landet der/die LeserIn schlieĂlich dem gefĂŒhlten Hauptteil des Buches. Da geht es um Streitwagenschlachten, und Kampfwagenkonzepte, um Wagenlenker und Pferdeausbildung und ProduktionsstĂ€tten sowie die Folgen des kriegerischen MobilitĂ€tsschubes fĂŒr die Machtkonstellationen der vorderorientalischen und Ă€gyptischen GroĂreiche. Verbunden waren die Streitwagenkulturen mit einer mythologischen Ăberhöhung des zweirĂ€drigen Herrschaftsinstruments, insbesondere in der griechischen Welt, dessen Symbolkraft sich bis in die jĂŒngste Zeit vor allem in der europĂ€ischen Welt erhalten hat.
Religiöse Bedeutung
Doch auch in den Riten, Religionen, Mythologien und Philosophien anderer Kulturen hat die Radsymbolik einen zentralen Stellenwert eingenommen. Selbst dort, wo das Rad nie praktische Anwendung fand, wie beispielsweise bei den Maya, war das Rad in vielfĂ€ltiger Funktion fester Bestandteil der mythologisch-religiösen SphĂ€re. Anders bei den anderen indigenen amerikanischen Kulturen, bei denen das Rad weder mythologisch noch praktisch eine Rolle spielte. Die ErklĂ€rung hierfĂŒr ist kurz und folgt dem klassischen Muster der Besonderheiten des unwegsamen Landes und des Fehlens geeigneter Zugtiere. Nach meinem DafĂŒrhalten ein wenig oberflĂ€chlich, denn, wie Kapitel 7 âWege und StraĂenâ zeigt, bauen die Menschen bei entsprechendem Willen eben geeignete Wege und ob in der aus europĂ€ischer Sicht âNeuen Weltâ beispielsweise mit Lamas geeignete Zugtiere verfĂŒgbar gewesen wĂ€ren, lĂ€sst sich naturgemÀà nicht zuverlĂ€ssig feststellen. SchlieĂlich waren auch Esel, Rentiere, und die Altweltverwandten der Lamas, die Kamele, nicht als Zugtiere geboren.
Die âModernisierungâ der Welt
Aber wie auch immer, unsere europĂ€ische Technologie mit ihrem Produktions- und Zerstörungspotential wĂ€re ohne das Rad kaum denkbar gewesen. Und insofern passt der Untertitel des Buches aus eurozentrischer Sicht. Denn ohne Einsatz der Radtechnologie wĂ€re die europĂ€ische globale Expansion, die ĂŒberlegene Kriegsmaschinerie, die Industrialisierung kaum gelungen. Deutlich wird dies in Kapitel 8 âRĂ€derwerke: Auf dem Weg ins Maschinenzeitalterâ. Das beginnt mit den antiken und mittelalterlichen Rammböcken und BelagerungstĂŒrmen auf RĂ€dern und fĂŒhrt zur archimedischen Schraube, deren VorlĂ€ufer mutmaĂlich Anwendung im BewĂ€sserungssystem fĂŒr die hĂ€ngenden GĂ€rten der Semiramis fanden. Göppel, Getriebe und ZahnrĂ€der lieferten die Basis fĂŒr unzĂ€hlige Anwendungen in Energie- und Rohstoffgewinnung oder in der Zeitrechnung. Im rund einseitigen Epilog liefert der Autor schlieĂlich einen Ausblick in die Zukunft und konstatiert: âDie Modernisierung der Welt wird immer von einer multifunktionalen Radtechnologie geprĂ€gt bleiben.â
Harald Haarmann: Die Erfindung des Rades. Als die Weltgeschichte ins Rollen kam. C.H.Beck 2023, Hardcover 191 Seiten.