Leseprobe aus Rotbarts wilde Verwandte Kapitel 1: Mit dem Tod im Gepäck
Rotbart reiste um die Welt, als sie sich im Umbruch befand. Seit gut einhundert Jahren hatten sich die Europäer auf verschiedenen Wegen in Ostindien niedergelassen und damit einen Prozess in Gang gesetzt, den wir heute als Globalisierung bezeichnen. Dieser Prozess zeichnete sich und zeichnet sich noch heute weitgehend durch hemmungsloses Ausbeuten der natürlichen Ressourcen aus.
Um nicht missverstanden zu werden: Südafrika, Indien, Indonesien oder Südostasien waren keine jungfräulichen Naturparadiese, in denen die Menschen vor der Ankunft der Europäer im Einklang und als Teil der Natur lebten. Die sprichwörtlichen Reichtümer der ostindischen und südostasiatischen Zivilisationen waren es schließlich, die bei den europäischen Mächten Begehrlichkeiten weckten und sie zu maritimen Höchstleistungen veranlassten, um das seit Jahrhunderten bestehende arabische Monopol im ostasiatisch-europäischen Fernhandel zu brechen. Reisanbau für eine ständig zunehmende Bevölkerung, die Produktion von Handelsgütern wie Gewürze, Elfenbein, Gold oder Textilien oder die Einführung von nicht heimischen Tierarten waren schon vor der Ankunft der Europäer mit der Vernichtung natürlichen Lebensraums zahlreicher einheimischer Arten verbunden. Zweifellos hatten die in Zusammenhang mit der europäischen Expansion ständig wachsende globale Nachfrage und die Aussicht auf exorbitante Profite diesen Prozess nicht nur beschleunigt, sondern auch in die entlegensten Winkel der Erde getragen.
Aber das Ausrotten von Tierarten reicht viel weiter zurück als die Eroberung der Welt durch die Europäer. Bereits in der Frühgeschichte und erst recht in der Antike galt der Krieg gegen die Natur und ihre wilden Bewohner geradezu als zivilisatorische Großtat. Im Namen allmächtiger Götter machten sich die Herrscher die Natur und ihre Geschöpfe (übrigens auch die Menschen selbst) Untertan. Als Kulturheroen schafften sie bereits in mythologischer Zeit Ordnung aus der chaotischen Natur. Was sich nicht unterordnete oder was schlichtweg im Weg war, wurde im Namen der Zivilisation vernichtet, zerstört, verwertet, umgeformt. Religionen und Ideologien haben dafür gesorgt, dass sich bis heute in den Köpfen der Menschen die Vorstellung vom Gegensatz zwischen wilder, ungeordneter Natur und menschlicher Herrschaftskultur als Obwalter göttlicher Ordnung festgesetzt hat.
Es scheint auf den ersten Blick paradox, dass ausgerechnet den Spitzenprädatoren wie Tiger und Löwe in den Mythen verschiedener Kulturen eine große Verehrung zuteil wurde, obwohl sie gleichzeitig den Gemetzeln der frühgeschichtlichen und antiken Herrscher zum Opfer fielen. Und während sich Südkorea, der Gastgeber der olympischen Winterspiele 2018, seiner engen kulturellen Verbundenheit mit dem Tiger rühmt und werbewirksam weiße und rote Tigermaskottchen verteilt, findet sich dort kein einziges (freilebendes) Exemplar des einst heimischen Panthera tigris altaica (Sibirischer Tiger) mehr. Die größte lebende Katze der Welt ist auf der Roten Liste gefährdeter Arten als „stark gefährdet“ verzeichnet, das sind lediglich zwei Stufen vor der Kategorie „Ausgestorben“.
Heute kehren die hierzulande im 19. Jahrhundert ausgerotteten großen Beutegreifer nach Deutschland zurück. Sie sind noch kaum richtig angekommen, da macht sich schon wieder das Bild von der unberechenbaren wilden Bestie breit. Wolf und Luchs bilden = wie es uns die Herrschaftsmythen über Jahrtausende eingetrichtert haben = eine Gefahr für Leib und Leben und sie verursachen im Verständnis der wenigen Betroffenen untragbare wirtschaftliche Schäden. Konsequenz: der Mensch muss regulierend eingreifen, die Bestie muss der Ordnung und Sicherheit, vor allem aber wirtschaftlichen Interessen bestimmter Gruppen weichen. Wie schon vor Jahrtausenden fühlen sich die Jäger berufen, das „Problem“ buchstäblich aus der Welt zu schaffen.
Auch die Geschichte der Erforschung der Tierwelt ist stark vom Bedürfnis geprägt, die unzähligen Erscheinungs- und Entwicklungsformen des tierischen Lebens in eine Ordnung zu bringen, zu systematisieren. In diesem Zusammenhang entstand die Erkenntnis der Evolution, die uns heute geläufige Klassifizierung und der Begriff der Arten, der übrigens viel komplexer ist, als viele Leser annehmen dürften.
Allein die wissenschaftliche Bestandsaufnahme der Fauna dieser Welt im 18 und 19. Jahrhundert kostete unzählige Individuen bereits damals vom Aussterben bedrohter Arten das Leben. Als wissenschaftliche Präparate oder unterhaltsame lebende Ausstellungsstücke landeten sie in den Sammlungen ehrwürdiger Universitäten und Museen, in Tiergärten oder Zirkussen. Artenschutz war nicht einmal ansatzweise auf dem Schirm der frühneuzeitlichen Wissenschaftler. Und so ist es kein Wunder, dass die gesellschaftliche Diskussion um Sinn, Zweck und Umsetzung von Artenschutz trotz zahlreicher Projekte und wissenschaftlicher Erkenntnisse eigentlich erst noch geführt werden muss. Denn das Grundverständnis von der Bedeutung funktionierender Ökosysteme ist im weltweiten Maßstab nach wie vor europäisch-funktional geprägt, also hinsichtlich eines gesellschaftlichen Wertesystems eng in eher kurzfristige ökonomischen Kosten-Nutzen Erwägungen eingebunden.
Wolfgang Schwerdt
Blogger bei LeseHitsBücher zu Kulturgeschichte, Seefahrt, Mensch-Tier-Studien und me(h)er.
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Rotbarts wilde Verwandte
"Rotbarts wilde Verwandte" ist eine kulturgeschichtliche Reise von der Frühzeit über das 17. Jahrhundert, in dem der Prozess der Globalisierung bereits im vollen Gange war, in die Neuzeit bis hin zu den aktuellen Herausforderungen, denen sich der Arten- und Habitatschutz angesichts der sogenannten sixth extinction, also dem sechsten Massenartensterben der Erdgeschichte zu stellen hat. Der Leser taucht dabei ein in die Welt von göttlichen Herrschern, Kulturheroen, menschenfressenden Raubkatzen, skrupellosen Geschäftemachern, historischen Ausrottungskampagnen und schießwütigen Naturforschern. Denn die Kulturgeschichte des anthropogenen Artensterbens ist geprägt von Gier und Machtbesessenheit, wissenschaftlicher Leidenschaft, religiösen Überzeugungen und einer gehörigen Portion Dummheit der Tierart, die sich in ihrer Hybris selbst als Homo sapiens, also als weise und vernünftig bezeichnet.