Berlin im Nationalsozialismus
Nationalsozialismus und Rassismus sind nicht nur, nicht einmal in erster Linie, ideologische Konstrukte, sondern ideologisch legitimiertes Handeln. Nationalsozialismus fand und findet heute wieder ganz praktisch durch Menschen und im Umgang mit Menschen statt. Diese praktische Seite, die die pulsierende Weltstadt Berlin zum Herzen der Finsternis und am Ende zum „Schutthaufen bei Potsdam“ (Bertold Brecht) machte, beleuchten die Autoren Christoph Kreutzmüller und Bjoern Weigel in allen Lebensbereichen der Stadt.
Machtübernahme …
Das beginnt mit der Machtübernahme in den städtischen Institutionen, den Verwaltungen, ihrer Umstrukturierung und Wirkungsweise auf Stadtplanung und die Menschen. Nicht zufällig also heißt dieses Kapitel, das die Schreibtischtäter und die Folgen ihres Tuns ins Visier nimmt „Am Schreibtisch“. Kapitel für Kapitel ändert sich die Szene, der Ort der Handlungen, und ihrer Auswirkungen auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, bis sich am Ende ein Gesamtbild der strukturellen Veränderungen der Stadt, ihrer Menschen, ihrer Denk- und Funktionsweisen und nicht zuletzt auch ihrer postfaschistischen Perspektiven ergeben.
in allen Lebensbereichen
Kein Lebensbereich blieb vom Handeln der kleinen und großen Protagonisten des Nationalsozialismus verschont. Günstlingswirtschaft, Korruption und Privilegien, Konkurrenz und Missgunst und Menschenverachtung sowieso zogen sich von der Führungselite bis hinunter zum Block- und Hauswart bis zum Denunzianten. Und kaum ein Ort, kaum ein Lebensbereich war vor ihnen sicher, sei es die Straße als rassistische und ideologische Kampfzone, seien es Arbeit oder Handel, Kultur oder Gastwirtschaft. In diesem Buch kann der/die Lesende den nationalsozialistischen Umbau gewissermaßen hautnah erleben und sich recht konkret darüber Gedanken machen, was der für ihn hätte bedeuten können. Und angesichts der aktuellen Entwicklungen regt die Lektüre auch zu der Auseinandersetzung mit der Frage an: Was würde die mögliche Machtübernahme der Nazis heute vor dem Hintergrund dieses Wissens für mich konkret bedeuten?
Nie wieder …
Rassismus, Zwangsarbeit oder Holocaust bleiben hier keine abstrakten Begriffe, sie sind Teil des im nationalsozialistischen Berlin tagtäglich Erlebten. Allein die hunderte von Zwangsarbeitslagern, die sich im Stadtgebiet befanden, die Enteignung jüdischen Besitzes zugunsten nichtjüdischer Bürger, die Ghettoisierung und vieles mehr lassen die Aussage, man habe nichts gewusst, kaum zu. Doch wenige Jahre nach der Befreiung durch die Alliierten hatte man schnell vergessen, jedenfalls die Naziverbrechen, obwohl viele der Orte des Schreckens noch existierten. Das lag nicht nur am aufkeimenden Wirtschaftswunder, sondern auch an der Tatsache, das NSDAP Mitglieder und Linientreue in Richterschaft, Lehrpersonal, Verwaltung, Polizei und später Militär aus pragmatischen Gründen im Amt geblieben waren.
… vergessen
Bei der Lektüre des Buches begann auch ich mich wieder zu erinnern, wie ich, ohne es zu wissen als Nachkriegskind in den Trümmern unter anderem einer Zwangsarbeiterbaracke (wie ich nun weiß) hinter unserer frisch bezogenen Wohnung eines sozialen Wohnblockneubaus gespielt habe. Diese Erinnerung ruft weitere hervor, denen ich nachzugehen beabsichtige. Insofern hat die Intention der Autoren bei mir durchaus funktioniert: „Unser Buch soll als Impfstoff für die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte anregen – nicht, weil wir die Geschichte ändern könnten, sondern weil die Beschäftigung mit ihr unbedingt notwendig dafür ist, damit sie Geschichte bleibt.“
Klar, ich kann auf gewisse persönliche Erinnerungen an entsprechende Orte zurückgreifen und bin ohnehin geschichtsaffin und naziallergisch. Aber ich hoffe, dass dieses Buch auch so manchen Vertreter der aktuellen „demokratischen Mitte“ im Parlament und falls überhaupt noch vorhanden, die Nichtnazis unter den „Protestwählern“ erreicht.
Wolfgang Schwerdt
Blogger bei LeseHitsBücher zu Kulturgeschichte, Seefahrt, Mensch-Tier-Studien und me(h)er.
Kommentare
Berlin im Nationalsozialismus
Mit innovativem Zugriff analysieren die beiden ausgewiesenen Berlin-Kenner Christoph Kreutzmüller und Bjoern Weigel die Geschichte der Hauptstadt im Nationalsozialismus. Ausgangspunkt für diese Alltagsgeschichte der besonderen Art sind idealtypische öffentliche, halböffentliche und private Orte – vom Bett bis zum Reißbrett. Anhand dieser Orte beschreiben die Autoren, wie die nationalsozialistische Ideologie und Herrschaftspraxis auf die Stadt und ihre Gesellschaft wirkten. Gespräche am Kneipentresen geraten dabei ebenso in den Blick wie die Ritualisierung des öffentlichen Lebens oder die Geschehnisse in den vielen verschiedenen Haftorten im Stadtgebiet.