Tom Saller, Lesung in der Buchhandlung Bücken, Overath© LeseHits.de 2024
Tom Saller, Lesung in der Buchhandlung Bücken, Overath

»Ich bin Anna« von Tom Saller

11.04.2024 von Edward Poniewaz

Ein Roman für Entdecker, die dem berühmten Psychoanalytiker Sigmund Freud und seiner Tochter Anna begegnen möchten. Die abwechselnden Erzählperspektiven, jeweils aus der Sicht von Anna und ihrem Vater, geben einen tiefen Einblick in ihre Gedanken und in eine Welt, die sich im Kriegswinter 1917/1918 im Umbruch befindet. Anna lebt noch in der Wohnung ihrer Familie, in der sich auch die Praxis des jüdischen Psychiaters befindet. Nur eine Türschwelle trennt die Praxis von den übrigen Räumen und doch scheint diese unüberwindbar. Anna ist das jüngste von sechs Kindern und begegnet ihrem Vater, der wie ein Gast in seiner Familie wirkt, bei den gemeinsamen Mahlzeiten mit Ehrfurcht und Bewunderung. Die Brüder sind im Krieg, die schöne Schwester ist verheiratet und Anna, die Wissbegierige, horcht an der Praxistür. Sie belauscht die Gespräche mit dem Patienten Stadlober und beginnt, sich für ihn zu interessieren. Inzwischen hat Freud beschlossen, sein analytisches Wissen an seine Tochter weiterzugeben. Er ahnt nicht, dass sich Anna hinter seinem Rücken mit dem schüchternen Stadlober trifft. Nach mehreren Treffen, die in eine Brieffreundschaft übergehen, bricht Anna den Kontakt zu Stadlober ganz ab und setzt damit eine Reihe von Ereignissen in Gang. Anna macht daraufhin eine Therapie bei ihrem Vater und beginnt, sich selbst zu erkennen. Zwanzig Jahre später annektieren die Nazis Österreich und die grausame Verfolgung und Deportation jüdischer Menschen beginnt. Anna und Stadlober treffen wieder aufeinander, in einem vermeintlich ungleichen Kampf.

Tom Saller schreibt in seinem Roman „Es heißt, die Seele kennt keine Zeit. Das Heute findet sich neben dem Gestern, die Zukunft ist bloß ein vorweggenommenes Plagiat.“ Wir haben in den letzten hundert Jahren enorme Fortschritte in der Technik, in der Medizin gesehen, aber sehen wir diese auch beim Menschen? Wer an die politische Lage, an die Kriege, an die Bedrohung jüdischer Menschen in Deutschland denkt, wird diese Frage verneinen. Insofern verfügt dieser Roman über eine beängstigende Aktualität.

Mit »Ich bin Anna« ist Saller ein außergewöhnlicher Roman gelungen, in einem Schreibstil, der verzaubert.

Sigmund Freud Museum - Wartezimmer© Hertha Hurnaus/Sigmund Freud Privatstiftung
Wartezimmer in Freuds ehemaliger Praxis
Die Sprache ist präzise, ohne zu langweiligen, und den Figuren und der Zeit angemessen, wie man es selten antrifft. Mit seiner Sprache werden Sigmund Freud und Anna lebendig und ein Eintauchen in den Charakteren und diese Zeit ist ein Lesevergnügen. Saller erlaubt sich in seinem Roman einige schriftstellerische Freiheiten, die er im Anhang erläutert. Aber ist es nicht oft die Fiktion, die die eigentliche Wirklichkeit erzählt?

Vor vielen Jahren besuchte ich das »Sigmund Freud Museum« in Wien, und aus heutiger Sicht hätte ich mir vor dem Besuch einen Roman wie diesen gewünscht. Das Museum besteht seit 1971 und befindet sich in den ehemaligen Wohn- und Arbeitsräumen Freuds.

Vielleicht begegnet Ihnen dort Anna, wenn Sie die Augen schließen?


Roman: Ich bin Anna

Ich bin Anna

Anna Freud und die legendärste Therapie der Welt

Wien im Kriegswinter 1917/18: Sigmund Freud plant, sein analytisches Erbe an seine jüngste Tochter weiterzugeben. Doch Anna kämpft ihren eigenen Kampf. – Ein suggestiver Roman von Bestsellerautor und Tiefenpsychologe Tom Saller.

Tief in ihrem Inneren strebt Anna Freud nach Unabhängigkeit vom schier übermächtigen Vater. Als Nesthäkchen lebt sie noch immer daheim, als der Erste Weltkrieg die Menschen blind macht. So etwa einen von Sigmund Freuds wenigen Patienten: Ludwig Stadlober kann nach einem Senfgasangriff nicht mehr sehen und sucht Hilfe beim berühmten Analytiker. Hinter seinem Rücken trifft sich Anna mit dem schüchternen Mann. Behutsam erkunden beide die eigenen Bedürfnisse. Doch zunehmend machen sich bei Anna verdrängte Triebe bemerkbar, sodass das Unglaubliche geschieht: Sigmund Freud nimmt die eigene Tochter in Therapie.
Zwanzig Jahre später. Die Nazis marschieren 1938 in Österreich ein. Anna und Stadlober begegnen sich erneut, und plötzlich geht es um das Überleben der Familie Freud.
Virtuos erzählt Tom Saller die Geschichte einer therapeutischen Dreiecksbeziehung, der Entdeckung des Todestriebes und der Selbstbehauptung von Anna Freud.

»Denn ich bin frei. Bin Anna. Bin ich.«

    Kommentare

    Thema: »Ich bin Anna« von Tom Saller

    Rosi
    Rosi
    12.04.2024 - 10:10 Antworten

    Danke für den Tipp: Beim nächsten Wien Besuch steht das Freud-Museum auf dem Programm.

    Oma Beate
    Oma Beate
    13.04.2024 - 13:07 Antworten

    Der Besuch des Museums war eher enttäuschend. Man bekam kaum einen Eindruck, wie Freud gelebt hat, da nur wenige Einrichtungsgegenstände ausgestellt waren. Insgesamt ist das Museum sehr weiß gehalten, ab und zu sind nachgestellte Fotos zu sehen. Die verschiedenen Theorien werden sachlich angerissen, Illustrationen fehlen. Ein Gefühl dafür, was für ein Genie Freud war und welche Bedeutung er für die Psychologie hat, wird nicht vermittelt. Das ist schade.


    Bettleser
    Bettleser
    12.04.2024 - 18:28 Antworten

    Ein Muss für alle, die sich für Psychologie interessieren. Ich fand es toll.


    sherlock holmes
    sherlock holmes
    18.04.2024 - 13:18 Antworten

    Ich war vor vielen Jahren auch im Freud-Museum und kann bestätigen, dass man da einiges verbessern könnte. Die Ausstellung ist nicht wirklich zeitgemäß, ich hatte mir mehr erwartet. Aber wenn man in Wien ist und etwas Zeit hat, würde ich nicht abraten.


    Edward Poniewaz

    Edward Poniewaz

    Kolumnist auf lesehits.de
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